Hinter dem Spiel grinst der Krieg

COVER_Denijen_Pauljevic_Der Wundenleser_Raniser_DebutRomane über Flüchtlingserlebnisse haben Konjunktur. Der Münchner Autor Denijen Pauljevic schickt über 20 Jahre nach seiner eigenen Flucht einen traumatisierten Mann in eine bizarre Militärübung in der bayerischen Provinz. Soldaten proben dort an Freiwilligen den Ernstfall. Der Leser findet sich mitten in einem surrealen Mitmachtheater, in dem alles möglich scheint – außer das Buch vorzeitig zuzuklappen.

von LINA BRÜNIG

Das Erlebnis dieses Kurzromans muss man sich so ähnlich vorstellen wie eines dieser Virtual-Reality-Videos aus dem Film Strange Days: Man legt sie ein, und plötzlich steckt man in der Wahrnehmung eines anderen. Man weiß nicht, wie man heißt, man weiß nicht, wie man aussieht, und man sieht sich Dinge tun, von denen man nicht weiß, wohin sie führen werden. Das Erlebnis ist aufregend, zuweilen verstörend, und wie bei jedem Rauschmittel vor allem eines: unkontrollierbar. So in etwa fühlt sich Der Wundenleser an, der erste Roman des serbischstämmigen Münchners Denijen Pauljevic.

Die Romanhandlung beginnt im München des Jahres 2015: Das namenlose Ich bewirbt sich als Assistent bei einer jungen Querschnittsgelähmten, die es, wie sich bald herausstellt, faustdick hinter den Ohren hat. Sie lädt den neuen Assistenten auf einen hochprozentigen Drink ein und stiftet ihn sogleich an, sie zu einer seltsamen jährlichen Militärübung zu begleiten. Irgendwo in der bayerischen Provinz gibt es ein Lager, in dem US-Soldaten den Kriegseinsatz auf dem Balkan proben. Gegen die Zusicherung vieler Tausend Euro und nach der vertraglichen Abtretung einiger Menschenrechte stehen dort Freiwillige den Soldaten für ihre Kriegsspiele zur Verfügung.

Irres Spiel mit der Realität

Ehe man sichs versieht, sind der Erzähler, die im Rollstuhl sitzende Ramona und der Alkoholiker Helmut drei dieser Freiwilligen und sitzen im Lager fest: Wer kneift, kriegt 30 Prozent weniger Geld. Helmut und Ramona wissen schon, was auf sie zukommt. Ihr Pfleger muss sich erst nach und nach daran gewöhnen, geschlagen und eingesperrt zu werden, als ‚Bürgermeister eines südserbischen Dorfs‘ vor ‚UN-Besuch‘ ein Nonsens-Gedicht vorzutragen, als ‚Scharfschütze‘ eine Mitdarstellerin zu ‚erschießen‘. Außerhalb der ‚Spiele‘ schläft er mit Ramona, die Insassen konsumieren Drogen oder beäugen einander misstrauisch. Nie weiß man, wann das nächste ‚Spiel‘ beginnt. Und währenddessen fantasiert der Erzähler, dass hinter allem sein Bruder am Werk ist – obwohl der offenbar damals in Serbien als Drogenkurier umgekommen ist.

Die Stimmung erinnert an Alex Garlands The Beach. Auch Joseph Conrads Heart of Darkness ist nicht mehr weit, wenn der stellvertretende Lagerleiter während der Abwesenheit des Kommandanten eine Drogenküche in der Baracke installiert – und auch sonst andere Sitten einführt. Das theatrale Als-ob der Kriegssituation wirkt dabei nicht im Geringsten beruhigend. Die Waffen der Soldaten sind geladen. Ramonas Grenzgängereien, die Drogen, die Streitigkeiten und der Bruder-Wahn – das alles ist echt. Immer wieder fürchtet man, dass irgendjemandes Leben oder Seelenheil auf der Strecke bleiben wird. Hinter dem Spiel grinst der Krieg.

Guter Roman schlecht verlegt

Der bis dato unbekannte Münchner Autor Denijen Pauljevic schreibt diesen Psychotrip mit der gebotenen Gnadenlosigkeit, mit drehbuchartiger Präzision und mit dem slawischen Mutterwitz, den sein Name vermuten lässt. Der Text führt ein hintergründiges Eigenleben. Ans brave, unterkühlte deutsche Erzählen gewöhnt, denkt man beim Lesen öfter: Nee, das sagt sie jetzt nicht. Oder: Nee, das tut er jetzt nicht. Und dann geschieht es doch.

Pauljevic ist 42. In den 1990ern floh er aus Serbien, heute arbeitet er in der Münchner Flüchtlingshilfe. Im Moment ist er Literaturstipendiat der Stadt und schreibt an seinem dritten Roman. Seinen hier vorgestellten Erstling Der Wundenleser hat er 2015 fertiggestellt, als er während eines Schreibstipendiums mehrere Wochen auf der thüringischen Literatur- und Kunstburg Ranis verbrachte.

Das klingt aufregend. Leider ist die damit verbundene anschließende Veröffentlichung in der Reihe Raniser Debüt unprofessionell gesetzt und schlampig lektoriert. Das ist dann aber auch schon der einzige Kritikpunkt. Hinter dieser unscheinbaren Fassade wartet eine soghafte Lektüre, mit der man eine durchwachte Nacht verbringen wird – auch wenn man sie sich eigentlich einteilen wollte.

Denijen Pauljevic: Der Wundenleser
Raniser Debüt, 117 Seiten
Preis: 10 Euro
ISBN: 978-3-00-050784-7

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