Wer bin ich (nicht)?

"Stiller" am Schauspielhaus Bochum Foto: Hans Jürgen Landes

“Stiller” am Schauspielhaus Bochum Foto: Hans Jürgen Landes

In seiner dritten Inszenierung am Schauspielhaus Bochum bringt der niederländische Regisseur Eric de Vroedt Max Frischs Roman Stiller auf die große Bühne. Die Adaption von Reto Finger kommt trotz einer Spiellänge von 2 Stunden 50 kurzweilig daher und büßt somit manches an Komplexität ein, verliert aber keineswegs an Sogwirkung auf den Zuschauer.

von ANNIKA MEYER

„Ich bin nicht Stiller!“, platzt es aus James Larkin White heraus, der in Zürich festgehalten wird, da er Ludwig Anatol Stiller, ein vor fast sieben Jahren verschollener Bildhauer, sein soll. Frischs Roman thematisiert die großen Fragen des Lebens: Wer bin ich? Was macht mich aus? Kann ich mein altes Leben zurücklassen und ein neues Dasein beginnen? Und falls ja, wer ist dann für meine Vergangenheit verantwortlich? Auf der Bühne des Schauspielhauses gibt es keinen Ich-Erzähler, der in Tagebucheinträgen von seiner Haft, seinen Verhören oder von seinen angeblichen Erlebnissen in Amerika berichtet. Stattdessen lässt Regisseur Eric de Vroedt, der schon mit seinen Bochumer Inszenierungen von Freitag und Leas Hochzeit Talent für sensible Themen bewiesen hat, Stiller beziehungsweise White doppelt auftreten: Michael Kamp verkörpert den Inhaftierten, der zwischen trotzigem Dementieren, Erschöpfung und Zynismus schwankt, Damir Avdic mimt den jungen Stiller, der in Rückblenden White und dem Zuschauer immer wieder als noch schwungvoller, teils unsicherer, teils verzweifelter Künstler ohne richtigen Halt vorgeführt wird. Eine gelungene Umsetzung, schließlich kann dadurch schnell zwischen Gefängnisszenen und Erlebnissen aus Stillers Vergangenheit gewechselt werden. Dass die verschiedenen Erzählebenen nahtlos wechseln und geschickt ineinandergreifen, ist letztlich auch dem gut getimten Ensemble und der großartigen Lichtregie (Bernie van Velzen und Wolfgang Macher) zu verdanken.

Ein Raum mit vielen Dimensionen

Hohe, graue Steinwände prägen das eigentlich schlichte, dennoch imposante Bühnenbild (Maze de Boer) und stellen mit einigen Türen, aus denen das Ensemble immer wieder das Geschehen in der Bühnenmitte beobachtet, einen Gefängnishof und gleichzeitig Whites Zelle dar. Mit wenigen Arrangements befinden sich die Figuren u. a. in New York, in Stillers Atelier und Wohnung oder im Sanatorium, in dem sich Stillers Frau Julika (Therese Dörr) von ihrem Lungenleiden erholen soll. Das Zusammenspiel aus Bühne, Licht und Musik ist raffiniert – zusätzliche Projektionen (Videos: Lena Newton), die Whites parabelhafte Anekdoten unterstreichen und kommentieren, lassen den Raum mal riesig, mal winzig erscheinen und stellen so nicht nur Whites Darstellungen, sondern auch die Wahrnehmung des Publikums infrage.

"Stiller" am Schauspielhaus Bochum Foto: Hans Jürgen Landes

“Stiller” am Schauspielhaus Bochum Foto: Hans Jürgen Landes

Generell lässt die Inszenierung vieles hinterfragen: So spiegelt sich die Unschlüssigkeit der Zuschauer wie auch von Whites Verteidiger Bohnenblust (Daniel Stock) und dem Staatsanwalt Rolf (Matthias Redlhammer) bezüglich der Identität des Angeklagten und seinen Erzählungen in den wenig fassbaren Figuren wider. Mal spielen Damir Avdic und Therese Dörr bis aufs Herzblut mitreißend und überzeugend, dann wieder präsentieren sie Stiller und Julika in slapstickhaften Posen, handeln überzogen und verleihen dem Geschehen dadurch eine plötzliche Leichtigkeit. Die nicht greifbare Identität und Vergangenheit Stillers zeigt sich nicht nur im wechselhaften Spiel des Ensembles, sondern auch in der Musik (Florentijn Boddendijk und Remco de Jong): Mal werden die Szenen passend mit Klassik, Jazz und Chansons unterlegt, mal wird das Bühnengeschehen und die Identitätsnegierung durch reibungsvolle Klänge und darauf abgestimmte Lichteffekte und Projektionen als dysfunktional entlarvt.

Schein, Sein – und die Liebe

Das große Konstrukt um die Identität und Existenz des Menschen wird in Bochum geschickt auf die Bühne gebracht – der Zuschauer erkennt im Verlauf der Handlung, dass die eigene Identität nicht nur von einem selbst definiert wird, sondern dass auch die Mitmenschen mit ihrer Außensicht eine Identität, ja ein Bildnis ihres Gegenübers erschaffen. Nicht nur Stiller leidet darunter, mit bestimmten Ereignissen und Merkmalen assoziiert zu werden, auch seine Frau Julika erkrankt an dem Versuch, ein Bild ihrer Selbst in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten und entfremdet sich dadurch von ihrem Mann. Dass es ausgerechnet die Liebe zu Julika ist, die am Ende aus White wieder Stiller macht, wird in der Entwicklung der Geschichte gelungen eingeflochten – wenn der Beobachter White z. B. versucht, sich der Julika aus den Rückblenden körperlich zu nähern – und verdeutlicht die innere Verbundenheit zweier dualer Personen. Die philosophische Komplexität von Frischs Roman wird in Bochum zugunsten eines Fokus auf die Beziehung von Mann und Frau reduziert – das mag zum Teil bedauerlich sein, verhindert aber nicht, dass man nach 170 meist fesselnden Minuten mit einigen zusätzlichen existentiellen Fragen und Weisheiten im Gepäck den Theatersaal verlässt.

 

Informationen zur Inszenierung
 
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