Vortreffliche Unglückselige

Cover_Thea Dorn_Die Unglueckseligen_KnausThea Dorn ist fasziniert von den Menschen um 1800. Ob Kleist, Humboldt oder Madame de Staël: Die erstaunlichen Lebensläufe jener Epoche zwischen geistesgeschichtlichem Idealismus und Napoleonischen Kriegen haben schon so manchen Schriftsteller zu (fiktiven) Biografien oder historischen Romanen verführt. Das Werk Die Unglückseligen bietet jedoch weit mehr als einen pseudo-historischen Plot – ein neues, schmackhaftes Stück im Kuchen der Weltliteratur.

von HELGE KREISKÖTHER

Im Zentrum ihres neuen Romans Die Unglückseligen steht zur einen Hälfte ein gewisser Johann Wilhelm Ritter (1776-1810), den heute kaum jemand mehr kennt. Als Zeitgenosse und zeitweiliger Freund von Goethe, Novalis und Brentano tat er sich als Physiker hervor, galt vielen als „wandelnde Wikipedia“ und experimentierte mehrfach mit Galvanismus an Tieren und – mit tödlichem Ausgang – an sich selbst. Obwohl Ritter sogar die UV-Strahlung entdeckte und den Prototyp unserer heutigen Akkus konstruierte, nahm und nimmt ihn jedoch niemand wirklich ernst. So zunächst auch Johanna Mawet, ihres Zeichens renommierte Molekularbiologin, die befristet in die USA ausgewandert ist, weil die deutschen Aufsichtsbehörden ihren humangenetischen Ewigkeitsfantasien einen Riegel vorgeschoben haben. Hier, das heißt im Jahre 2016, begegnet sie nun Ritter als verwahrlostem Landstreicher und Gelegenheitsjobber. Die Frage bleibt bloß, wie um Himmels willen der schlesische Knallkopf in die Gegenwart gelangt ist. Gelang ihm bei seinen Selbstversuchen etwa beiläufig der Zugang zur Unsterblichkeit? Oder hatte gar der Teufel selbst seine Finger im Spiel?

Faustisch-frankensteinischer Plot

Schnell wird ersichtlich, dass Thea Dorn (Jahrgang 1970) auf brillante Weise die Lebenswege zweier zeitlich getrennter Schicksals- und Leidensgenossen kreuzt, die sich „nur“ in ihrer Absicht, der vermeintlich unabänderlichen Sterblichkeit Einhalt zu gebieten, ähneln. Scheinbar! Denn Ritter ist nach zwei durchlebten Jahrhunderten, im Laufe derer er die Wankelmütigkeit der Deutschen schmerzhaft miterleben konnte, kein banaler Utopist mehr, sondern erkennt den Wert von zeitlicher Begrenztheit und verteidigt somit beherzt Schillers Ausspruch „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“. Johanna, die ihren „German uncle“ inzwischen bei sich wohnen lässt, kontert hitzig und mit Abscheu gegen ethisch-religiöse Vorbehalte, die ihr den beruflichen Aufstieg erschweren: „Ich habe ein für alle Mal genug von dieser […] Trostakrobatik, die irgendwelche Wüstenzyniker in die Welt gesetzt haben, damit noch der ärmste Schlucker ‚Halleluja!‘ ruft, wenn ihm das Genick gebrochen wird!“ Schließlich setzt sie sich in den Kopf, mithilfe des Ritter’schen Genoms die menschliche Unsterblichkeitsformel ausfindig zu machen. Warum sollte es denn lediglich den Schwanzflossen von Zebrafischen vergönnt sein, sich fortlaufend selbst zu regenerieren? Der Roman beschränkt sich jedoch weder auf solch erschöpfend-kontroverse, ethische Diskurse noch auf fließende Einheitsprosa: Die brillante Verwebung von Zeitebenen, Erzählinstanzen – immer wieder spricht Mephisto persönlich – und Schreibstilen à la Goethe bis Houellebecq hätte das Potenzial, so manch übrigen Vertreter deutscher Gegenwartsliteratur vor Neid verstummen zu lassen. Als ein stilistischer Höhepunkt ist beispielsweise der „Immortalistenkongress“ hervorzuheben, ein „utopisches Drama in einem Akt“. Typografische Raffinessen wie verzierte Initialen, Fraktureinschübe, algorithmische DNA-Aufschlüsselungen und Blogeinträge über Teufelsbeschwörung tun ihr übriges.

Die Elixiere der Thea Dorn

Spätestens seit der Figur des Homunculus im Faust II und Romanen wie Elementarteilchen (Houellebecq, 1998) oder Blueprint – Blaupause (Charlotte Kerner, 1999) ist das Thema des „perfekten“, krankheitsfreien Menschen und die daraus resultierende Anmaßung gegenüber Gott in die Literatur eingezogen. Die Unglückseligen wirbeln aber nicht bloß brandaktuelle Streitfragen rund ums Klonen, die Krebsbekämpfung, Wissenschaftsethik und (gewinnbringende) Technikhoheit auf; Thea Dorn macht vielmehr die Divergenz zwischen den Epochen samt ihren sprachlichen Gepflogenheiten fühlbar und lässt beide Protagonisten, trotz der stellenweise ausgedehnten naturwissenschaftlichen Phrasen, ungemein menschlich wirken. Nicht zuletzt begegnen wir in ihrem Roman einer literarisch herausragenden Paarkonstellation, die Züge von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, aber auch von Don Quijote und Sancho Panza trägt.

Selbst der auf allen Linien gescheiterte Ritter vermag unserer Zeit den Spiegel vorzuhalten, wenn er behauptet: „Kein Klingen von Sphären hört ihr mehr, nur eines Uhrwerks Rattern und Klappern, und seid’s erst zufrieden, wenn ihr selbst das noch zum Verstummen gebracht.“ Aber auch die nötige Portion Amüsement wird bei allen menschheitserschütternden Auswüchsen nicht eingebüßt. So sieht Ritter sich etwa jedes Mal von bösartigen Mitgliedern eines freimaurerischen „Apfelbundes“ umzingelt, wenn Johannas Kollegen mit ihren iPhones hantieren; und auch seine erste Konfrontation mit jener „animalischen Sauerei“, die wir heute als Blowjob kennen, löst eine folgenschwere Reaktion aus. Wenn der Rezensent nun obendrein eine sich allmählich Bahn brechende Liebesgeschichte mit Einfühlungsvermögen und Seltenheitswert verspricht, was fehlt dann noch für den Bildungsroman des 21. Jahrhunderts? „Wenn du im Raume dich verirrst und nicht mehr weißt, wohin zurück, bin ich die Hand, die heim dich geleitet.“ In diesem Sinne: nicht nur wegen des Blicke fangenden Vanitas-Covers eine ausdrückliche Kaufempfehlung für alle Freunde von ruhe- und zeitlosen Half-Science-Fiction-Schmökern.

Thea Dorn: Die Unglückseligen
Albrecht Knaus Verlag, 560 Seiten
Preis: 24,99€
ISBN:
978 38135 05986

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