Zwischen den Stühlen und Nationen

"Amara terra mia - Mein bitteres Land" bei den Ruhrfestspielen Foto: Krusebild

“Amara terra mia – Mein bitteres Land” bei den Ruhrfestspielen Foto: Krusebild

Amara terra mia – Mein bitteres Land ist nicht nur die Hymne Domenico Modugnos, zu der in den 1950er und 60er Jahren viele italienische Gastarbeiter ihre Heimat verließen, sondern auch der Titel einer Koproduktion des St. Pauli Theaters Hamburg, des Teatro Alfieri Castelnuovo Berardenga, der Théâtres de la Ville de Luxembourg und der Ruhrfestspiele, die nun im Kleinen Theater im Recklinghäuser Festspielhaus Uraufführung hatte. Ein gelungener Abend, der zu Recht mit stehenden Ovationen gefeiert wurde.

von ANNIKA MEYER

Im zweisprachigen Stück Amara terra mia erzählt das Regieteam um Matteo Marsan, Dania Hohmann und Ulrich Waller von der schwierigen Lage italienischer Gastarbeiter im Deutschland ab den 1950er Jahren. In Italien gibt es – auch bedingt durch den großen Eisregen – keine Aussicht auf regelmäßige Arbeit, und so folgen viele Italiener der Einladung Deutschlands, ihr Glück fern der Heimat zu suchen. Unter ihnen ist auch Agatino Rossi, der sein Dorf San Gusmé in der Toskana verlässt, um in Wolfsburg bei VW sein Geld zu verdienen. Etwa fünfzig Jahre später: In einer schlichten Wolfsburger Leichenhalle (Bühne: Georg & Paul) treffen sich Carla (Adriana Altaras) und Maria Grazia (Daniela Morozzi) an der Urne ihres gemeinsamen Vaters. Erst jetzt erfahren sie voneinander und von den zwei Familien, die Agatino in Wolfsburg und San Gusmé hatte.

Die Handlung ist geschickt geschnitten – historische Videoeinspielungen (Video/Ton: Enrico Rode, Videoschnitt: Jan Ruschke) wechseln sich mit verschiedenen Episoden aus Agatinos Leben und Szenen aus der Leichenhalle ab. Durch die alten Schwarzweißfilme wird die Atmosphäre der vergangenen Zeit gut transportiert: Wir sehen u. a. junge Männer im Zug nach Deutschland, das Maschinengetöse in deutschen Fabrikhallen, aber auch einen Leitfaden zum adäquaten Spaghetti-Verzehr. Zudem werden Vorurteile, z. B. über die gewaltbereiten Südländer und die mangelhafte Integration der Ausländer, demonstriert und zeigen erschreckende Parallelen zu den fremdenfeindlichen Geschehnissen und Ressentiments unserer Tage.

"Amara terra mia - Mein bitteres Land" bei den Ruhrfestspielen Foto: Krusebild

“Amara terra mia – Mein bitteres Land” bei den Ruhrfestspielen Foto: Krusebild

Es braucht nicht viel, um fremd zu sein

Daniela Morozzi und Adriana Altaras mimen nicht nur die beiden Töchter Agatinos, sondern auch sämtliche Figuren der unterschiedlichen Episoden. Durch dezent-fließende Kostümwechsel (Kostüme: Bettina Proske) – es reicht schon ein Hut, ein Schal oder ein Jackett, um die Rolle zu tauschen –, vor allem aber durch vielseitige Mimik und Körpersprache spielen sie Agatinos Frauen und Töchter, den besten Freund in San Gusmé oder den Kollegen in Wolfsburg. Dabei wird ersichtlich: Agatino lebt(e), wie viele Gastarbeiter mit ihm, ohne Heimat und feste Bezugspersonen. In Deutschland als Itaker und Spaghettifresser beschimpft, ist Agatino nach seiner Rückkehr nach Italien nur „il tedesco“, der Deutsche, und wird selbst in seinem Heimatdorf als fremd angesehen.

Es ist unheimlich komisch, die beiden Darstellerinnen zu beobachten, wie sie als Agatino und sein Kollege Franco patzig und sich übereifernd an einem Deutschkurs teilnehmen oder wie Agatino in einer Bar – trotz des Schildes „Für Hunde und Italiener verboten“ seine erste Frau Irene kennenlernt. Dann wiederum gibt es Momente, in denen einem das Lachen vergeht, wenn Agatino z. B. in einer Talkshow als 1000. Gastarbeiter begrüßt wird und sich dann nur schwer wehren kann, als der Moderator fast schon beiläufig die Italiener als angeblich ungebildet, ungepflegt und nicht integriert bloßstellt. Amara terra mia zeichnet ein gelungenes Zeitportrait, das verdeutlicht, wie schwer es Menschen gefallen sein muss, die Heimat aufzugeben, um in der Ferne Geld zum Überleben zu verdienen. Dass sich Parallelen zur heutigen Flüchtlingsthematik ziehen lassen, muss das Stück nicht näher ausführen; viele Aussprüche des Abends sind uns nur allzu vertraut aus heutigen Interviews mancher „Politiker“ oder „besorgter Bürger“.

„Das erste Jahr hier, habe ich noch lauthals gesungen, wenn ich durch die Straßen ging. Das ist alles vorbei.“

Natürlich darf auch über Klischees des temperamentvollen Italieners oder über die unwissende Deutsche gelacht werden, die einen „Zinzano bancio“ bestellt. Insgesamt bietet der Abend ein rundes Bild eines Mannes, der zwischen den Stühlen sitzt, nirgends mehr hingehört und sich letztlich erst via Brief offenbart, als er schon zu Asche in einer Urne geworden ist. Carla und Maria Grazia brauchen eine Weile, um zu akzeptieren, dass sie Schwestern sind – sie streiten, weinen, erzählen – und um am Ende zwar ohne Urne, aber mit einem neu gewonnenen Familienmitglied wieder ihrer Wege zu gehen. Trotz oft schlecht getimter Übertitel für die italienischen Gesprächspartien darf man dem ganzen Team Respekt zollen für eine gelungene Dramaturgie, schlichte, aber wirkungsvolle inszenatorische Einfälle und nicht zuletzt eine hervorragende schauspielerische Leistung. Nach kurzweiligen 75 Minuten verlässt man den Saal mit viel italienischer Musik und Sonne im Herzen, die nur ein wenig von der Wolfsburger „tristezza“ getrübt wird.

 

Informationen zur Inszenierung

 

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