Alles, was man vergesssen hat…

COVER_Matthew Thomas_Wir sind nicht wir_BerlinverlagMatthew Thomas’ Monumental-Werk Wir sind nicht wir ist weder thematisch innovativ noch von sprachlicher Raffinesse oder erzählerisch überraschend. Die 900-seitige Schilderung eines unbarmherzigen Kampfes trifft dennoch mit voller Wucht.

von ANNA KREWERTH

Sechzig Jahre umfasst die Romanhandlung, die 1951 als typische Erzählung einer irischen Einwandererfamilie in New York einsetzt. Zehn Jahre hat der High School-Lehrer Thomas gebraucht, um das eigentliche Thema dieser Geschichte – die frühe Alzheimer-Erkrankung des eigenen Vaters oder doch vielmehr das Ringen um und im Leben generell – auf Papier zu bannen. Auf viel Papier.

Eileen Tumulty, Tochter des irischen Hallodris „Big Mike“ und einer zähen Trinkerin, begreift schon früh, „dass manche Orte mehr und andere weniger Glück verhießen. Wusste man das nicht, konnte man sich dort, wo man lebte, zufriedengeben.“ Doch Eileen tut es nicht. In ihrem Streben nach einem besseren Leben, das sie aus dem rauen Umfeld ihrer Kindheit herausführen soll, findet sie im sanftmütigen und klugen Ed Leary den geeigneten Partner fürs Leben.

Schleichende Annäherung

Erst spät bekommt Eileen einen Sohn, Connell, spät erfüllt sich ihr Wunsch von einem Haus, das ihren Ansprüchen von gesellschaftlichem Prestige und schöner Fassade genügt, und fast zu spät erkennt sie, dass es im Leben nicht um Repräsentation geht.

„Sie musste schnell entscheiden, um sich die Vorstellung von ihrem Leben zu bewahren, einem Leben, in dem Ed sich fröhlich in seinem Arbeitszimmer abmühte und Ideen wälzte, bis aus ihnen neue Forschungshypothesen wurden, und sie eine großartige Gastgeberin war und der weibliche Vorstand eines anerkannten Familienclans. Dieses Haus würde die Kulisse für ihr zweites Leben miteinander abgeben.“

Es kommt ganz anders. Ed erkrankt an Alzheimer, steigende Pflegekosten verschlingen ihre Ersparnisse. Mutter und Sohn müssen den schleichenden Verfall von Ehemann und Vater erleben, und obgleich der Erzähler nie Eds Perspektive einnimmt, ist dieser in jeder Zeile präsent. Vom abgeschmackten Geplänkel der sozialen Aufstiegsträume eines Einwanderermädchens wandelt sich der Roman zur gewaltigen Schilderung eines Kampfes dreier Menschen mit dem eigenen Leben – und dem des anderen. Lange mäandert Thomas um den Kern seines Buches herum, die Andeutungen häufen sich und doch fällt die Diagnose Alzheimer erst in der Mitte des Romans. Fast so, als habe der Autor selbst sich zunächst bis dorthin ‚vorkämpfen‘ müssen. Hier setzt überhaupt erst eine Wirkung des Geschriebenen ein. Jede Seite macht dieses Buch besser und ist von banaler Brachialität.

Das Alles-richtig-machen-Prinzip

Eindringlich, ohne ins Voyeuristische oder Denunzierende abzudriften, schildert Thomas den Einbruch des vollkommen Unerwarteten in das strikt geplante und wohlorganisierte Leben der Learys. Am völlig unterschiedlichen Umgang von Mutter und Sohn bildet sich darüber hinaus das Psychogramm zweier Generationen ab. Eileen stellt sich stoisch und unerbittlich der Situation: „Ich versuche einfach, an Gepflogenheiten wie Weihnachten festzuhalten, denn es wird alles noch schwer genug, egal, was ich tue oder lasse. Ab und an muss man sich selbst austricksen.“ Connell distanziert sich, ist überfordert, gleichsam zerrissen zwischen Schuldgefühlen und dem Fortschreiten des eigenen, noch jungen Lebens:

„Connell sah seinem Vater nach, wie er sich eine Zeitung kaufte. Dann setze er sich auf eine Bank im Schatten und holte ein Buch aus dem Rucksack. Der Gedanke an seinen Vater, wie er allein zurück ins leere Haus ging, machte ihm so zu schaffen, dass er erst eine Seite gelesen hatte, als das Signal den Zug ankündigte. Doch in der Eile, sein Buch zu verstauen und das schwere Gepäck zu schultern, vergaß er seinen Vater vollkommen.“

David L. Ulin von der Los Angeles Times nennt Thomas’ Debüt völlig zu Recht „an epic of small events“. Es sind unauffällige, triviale Szenen und Beobachtungen, in denen hier Weisheit steckt. Doch auch Sylvia Staude bemerkt treffend, dass der Inhalt des Buches mehr vermag als seine Sprache. Diese ist einfach gehalten, ohne ausschweifende Bildlichkeit oder akrobatische Hypotaxe. Dass sich die Wirkung des Geschilderten einzig aus dem Wissen um seinen autobiografischen Hintergrund speist, ist zweifelhaft. Dennoch stärken vermeintliche Schwächen des Romans wie sein simpler Stil, Anflüge von Kitsch oder der enorme Umfang, die Form des langsamen Herantastens an Unaussprechliches und Unerträgliches seine Glaubwürdigkeit.

Nachbeben

In den USA wird der 1977 geborene Autor bereits als „neuer Jonathan Franzen“ gefeiert. Er selbst fasst seinen Schreibprozess folgendermaßen zusammen: „I was a fool when I started. I guess now I’m a wise fool in the sense that I know I’m a fool but I didn’t know it then. I learned how to be a person over the course of writing this thing.“  Im Unterschied zu Franzen ist indes unübersehbar, dass Thomas die Geschichte seines Vaters und die Notwendigkeit oder das Verlangen, diese zu verarbeiten, zum Schreiben geführt haben – nicht etwa ein unverkennbares erzählerisches Talent. Es bleibt abzuwarten was und wie Matthew Thomas nach dem Hervorbringen dieses Kolosses einer Geschichte (noch) zu schreiben vermag. Und zu hoffen, ‚dass‘ es ihm gelingt. Wir sind nicht wir bleibt in jedem Fall ein imposantes Stück der amerikanischen Gegenwartsliteratur.

 

Matthew Thomas: Wir sind nicht wir. Aus dem Englischen von Astrid Becker und Karin Betz
Berlin Verlag, 896 Seiten
Preis: 24,99 €
ISBN: 987-3-8270-1206-7

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