Bereits am 30. August 2015 feierte Lessings Nathan der Weise am Deutschen Theater Berlin Premiere – nun lief das Stück auch im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen. Andreas Kriegenburg präsentiert die große, märchenhafte Abhandlung über religiöse Toleranz als wunderbare Komödie, in welcher der Staub der Aufklärung einem gut aufgelegten, mit Lehm beschmierten Ensemble weicht.
von ANNIKA MEYER
Gotthold Ephraim Lessings großes Aufklärungsdrama, das erst zwei Jahre nach dem Tod des Dichters 1783 uraufgeführt wurde, stellt zur Handlungszeit am Ende des 12. Jahrhunderts nicht nur den Stellenwert monotheistischer Religionen, sondern auch das tolerante Miteinander in den Mittelpunkt und ist damit in Zeiten brennender Flüchtlingsheime und zunehmend größerer Erfolge rechter Parteien aktueller denn je. Dabei schaffen es Kriegenburg und sein Regieteam, trotz aller Drastik, die tagespolitische Querverweise – „des Juden und des Flüchtlings Haus sieht mancher gerne brennen“ – und der Ursprungstext aufweisen, Lessings oft mit einem Schleier übertriebener Ehrfurcht inszeniertes Stück mit einer komödienhaften Leichtigkeit auf die Bühne zu bringen, die trotzdem nichts an thematischer Tiefe einbüßt. Dies scheint ganz in Lessings Sinn, schließlich endet sein Nathan auch glücklich: Nach vielen Streitgesprächen, Gleichnissen und Offenbarungen stellt sich heraus, dass mehr oder minder alle Protagonisten durch Blut oder Erziehung miteinander verwandt sind und damit die Hürden zwischen dem Islam, dem Christen- und dem Judentum kleiner sind als bisher angenommen.
Die Bühne ist weitgehend leer, nur ein mehrere Meter hoher Holzquader ziert den Raum. Doch Harald Thors Konstruktion hat es in sich – mal fungiert der Würfel als Klagemauer, mal öffnet er sich und offenbart verschiedene Wohnräume, dann wieder lässt er sich drehen und ist vielseitig begeh- und bespielbar. In Kombination mit immer wieder neuen Lichtstimmungen (Cornelia Gloth) und abwechslungsreicher Musik, die an Jahrmarktsbesuche oder Stummfilme erinnert, werden so mit wenigen Handgriffen immer wieder neue Spielräume und Übergänge geschaffen.
Adam, Charlie und Nathan
Auch das Gebaren des Ensembles erinnert an Charlie Chaplin und Buster Keaton in Höchstform: Wenn nicht gerade Lessings Handlung vorangetrieben wird und seine Blankverse wunderbar melodisch zum Besten gegeben werden, staksen und tänzeln die Darsteller über die Bühne, treiben nonverbal ihre Späße mit der Holzkiste oder winken vor und nach der Pause des dreistündigen Abends ins Publikum. Dabei ist es beeindruckend, wie überzeugend und fließend die Schauspieler zwischen beiden Ebenen wechseln können und mit welcher Spielfreude sie den lehmbeschmierten Stummfilmdoubles Leben einhauchen.
Das Ensemble des Deutschen Theater Berlin gänzlich mit Lehm zu bedecken, ist ein cleverer Schachzug: Schon im Buch Genesis wird schließlich beschrieben, wie Gott aus Ackerboden den Menschen formte; auf der Bühne sind nun alle als Ur-Menschen diesen ersten, von Religionen noch nicht gespaltenen Menschen gleich und folglich nur durch stereotype Accessoires und Kostüme (Andrea Schraad) wie Schläfenlocken, Fez, Turban oder Kreuzritterhemd äußerlich zu unterscheiden. Die finale Aussage des Stückes ist also schon zu Beginn auf der Bühne präsent. Innerhalb der Lessingʼschen Handlung präsentieren die Darsteller jedoch nicht nur ihre Geschlossenheit, sondern auch ihre Einzigartigkeit: Jörg Pose mimt die Titelfigur sehr souverän und mit wundervoller Sprachmelodik, Elias Arens präsentiert einen herrlich aufgedrehten Tempelherrn mit viel Körper- und Stimmbandeinsatz und Natali Seelig überzeugt sowohl als Rechas Gesellschafterin Daja als auch als Fatsuit tragender Patriarch von Jerusalem auf ganzer Linie.
Selfies und Free Hugs
Trotz der insgesamt drei Stunden hat der Recklinghäuser Theaterabend nur wenige Längen (Dramaturgie: Juliane Koepp). Doch schöne Übergänge zwischen den einzelnen Szenen bringen gerade in der zweiten Hälfte noch mal mächtig Tempo ins Stück; viele kleine, aber feine Gimmicks lockern die teilweise doch schwer verdaulichen Dialoge gelungen auf. Und so gibt es für das besudelte Ensemble am Ende zwar keine „Free Hugs“, wie sie auf einem Plakat angeboten werden, dafür aber schon am Schluss der ersten Hälfte ein Selfie mit gut gestimmtem Publikum und zu guter Letzt verdient warmen Applaus für einen runden Theaterabend, dessen Kernbotschaft sich manche Leute unserer Zeit nicht nur mit Lehm hinter die Ohren schreiben sollten.
Informationen zur Inszenierung