Im Theaterzelt der Ruhrfestspiele Recklinghausen geht es musikalisch zu: Der Schauspieler Rolf Becker liest Alessandro Bariccos berühmten Monolog Novecento – Die Legende vom Ozeanpianisten (1994) und wird dabei klanglich unterstützt vom berühmten Saxofonquartett clair-obsur. Trotz guter Darbietungen bleibt der Abend jedoch ohne emotionale Höhepunkte und Tiefgänge.
von ANNIKA MEYER
Danny Boodmann T. D. Lemon Novecento: So heißt Bariccos musikalisches Genie, das – am Neujahrstag 1900 auf dem Ozeandampfer Virginian geboren, dort ausgesetzt und aufgewachsen – das Schiff bis zu seinem Tod nicht verlässt und durch seine Musik (und seine Freundschaft) das Leben der Passagiere, aber vor allem des Trompeters Tim Tooney nachhaltig verändert. Rolf Becker liest den Monolog mit markanter Stimme und erzählt vor allem als Bandmitglied Tooney von Novecentos ungewöhnlichem Leben. Dabei braucht es nur einige Jackettwechsel, um die verschiedenen Erzählebenen des Monologs zu verdeutlichen – Becker trägt sämtliche Rollen und Erzähler des von Baricco als Theatermonolog konzipierten Texts mit einer subtilen Bandbreite vor und berichtet u. a. von Novecentos magischem Klavierspiel, das auf stürmischer See den beängstigten Bandkollegen beruhigt, oder vom Pianistenwettstreit mit dem „Erfinder des Jazz“ Jelly Roll Morton, den der Ozeanpianist natürlich gewinnt.
Das Saxofonquartett clair-obsur begleitet dabei die geschilderten Fahrten zwischen Europa und Amerika. Mal geben sie die Wellen des Meeres wieder, dann verkörpern sie die Atlantic Jazz Band, deren Star Novecento ist. So harmonisch die Kompositionen von Gene Pritsker auch wirken, musikalische Virtuositäten und Höhepunkte, wie sie im Monolog häufig beschrieben werden und auch in der Verfilmung von 1998 durch die Musik Ennio Morricones zu erleben sind, fehlen an diesem Abend. Das souveräne Spiel des Ensembles und auch die spätere Zugabe beweisen, dass clair-obscur nicht an den eigenen Grenzen scheitert, sondern lediglich im Rahmen dieser Komposition und Konzeption nicht beweisen kann, was in ihm steckt.
Ohne Piano und Kreativität
Die Strichfassung (Dramaturgie: Florian Vogel) präsentiert geschickt viele Highlights aus Novecentos Leben und Gedankengängen sowie Tim Tooneys Zeit an Bord, sodass manch grammatikalischer Schnitzer – ob nun von Seiten der Fassung oder durch Becker – verzeihlich ist. Eine deutlichere Regiehandschrift wäre jedoch wünschenswert gewesen. In einer musikalischen Lesung über einen Pianisten und dessen Spiel auf ein Piano zu verzichten, ist gewagt, aber möglich – Musik- und Textfragmente die meiste Zeit jedoch jeweils für sich stehen zu lassen, ist unnötig. Ein stärkeres Miteinander, eine durchdachte und verspielte Verschachtelung der beiden Elemente des Abends hätte aus einer soliden Lesung und souveräner Musikbeigabe ein einnehmenderes Theatererlebnis gemacht. So berührt zwar gerade das einsame Ende des Ozeanpianisten, doch die Vorführung an sich bleibt nicht länger in Herz und Ohr als das lange Tuten eines Dampfers.
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