Und falls ja, hieße das nicht, dass es in der vermeintlichen Kontinuität des Zeitverlaufs Brüche geben muss, Lücken, Löcher oder offene Räume? Der weite Raum der Zeit, der neue Roman der vielfach preisgekrönten Schriftstellerin Jeanette Winterson, handelt von einem solchen „Zeitloch“. Nicht weniger als 400 Jahre geht die Autorin zurück in die Vergangenheit, um uns eine erklärte „Cover-Version“ von einem der wundervollsten Shakespeare-Stücke, Das Wintermärchen, zu präsentieren.
von BERNHARD STRICKER
Seitdem die Vorstellung der Linearität und der Unumkehrbarkeit der Zeit unser Denken beherrscht, haben auch die Gegen-Imaginationen der Zeitreise, der Rückkehr in die Vergangenheit, der Möglichkeit einer Veränderung des unabänderlichen „So war es“ Konjunktur. Die Neuzeit beginnt mit der sogenannten Renaissance. Auf den Zukunftsoptimismus der Aufklärung antwortet die Romantik mit der Verklärung des Mittelalters. Und gegen die positivistische Fortschrittsparole stellt Nietzsche seinen Gedanken von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Damit aber strebt Nietzsche bereits die Aufhebung eben jener Melancholie an, die dem Vergangenen als einem auf immer Verlorenen anhängt. Den „Geist der Rache“ nennt sein Sprachrohr Zarathustra das Unvermögen des Willens, das Gewesene zu verändern: „Nicht zurück kann der Wille wollen; daß er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde – das ist des Willens einsamste Trübsal. […] Dies, ja dies allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘.“ In der Affirmation der ewigen Wiederkehr des Gleichen aber würde der Wille, so Nietzsches Vorstellung, das „Es war“ in ein „So wollte ich es“ verwandeln und sich so von der Fessel der Vergangenheit befreien.
Lost and found
Shakespeares Wintermärchen konfrontiert uns mit einer Geschichte von Zeit und Verlust, in deren Zentrum eben diese Frage nach der Möglichkeit einer Wiederkehr des Verlorenen steht. König Leontes aus Sicilia vermutet, dass seine schwangere Frau Hermione eine Affäre mit seinem besten Freund Polixenes unterhält und das zu erwartende Kind von ihm stammt. Nachdem sein Versuch, Polixenes umzubringen, gescheitert und Polixenes in sein Königreich Bohemia geflohen ist, verstößt Leontes seine Frau und lässt die neugeborene Tochter Perdita an der Küste Bohemias aussetzen. Vor Kummer sterben sowohl Hermione als auch ihr Sohn Mamillius bevor ein Bote Leontes die Nachricht des Delphischen Orakels von Hermiones und Polixenes’ Unschuld überbringen kann. So lautet der erste Teil der Handlung des Stückes. Nach knapp zwei Akten hat die Tragödie bereits ihren Höhepunkt erreicht und das Schicksal aller Figuren scheint besiegelt. Reue, so sollte man denken, ist das Einzige, was Leontes jetzt noch übrigbleibt. Jeanette Wintersons Der weite Raum der Zeit setzt genau an diesem Punkt ein, in der Mitte von Shakespeares Stück, als Perdita von einem Schäfer und seinem Sohn gefunden wird, die sie in der Folge großziehen, bis sie schließlich, erwachsen geworden, ausgerechnet Florizel, den Prinzen von Bohemia und Polixenes’ Sohn, trifft, die beiden sich ineinander verlieben und …
Dramatis Personae
Ganz genau so hört sich die Geschichte bei Winterson freilich nicht an. Winterson „übersetzt“ (wie zwischen zwei Küsten: Sicilia und Bohemia?) Shakespeares Fabel und ihren Sound in das Europa und Amerika des 21. Jahrhunderts. Angefangen bei den Figurennamen:
Leontes = Leo
Polixenes = Xeno
Hermione = MiMi
Florizel = Zel
Mamillius = Milo
Clown = Clo
Perdita = Perdita
Perdita ist nicht zufällig die einzige Figur in Wintersons Roman, deren Name identisch mit ihrem Vorbild bei Shakespeare ist. Sie trägt schon bei Shakespeare ihr Schicksal in ihrem Namen als „die Verlorene“. Das verlorene Kind symbolisiert die verlorene Zeit und die darin enthaltenen Möglichkeiten schlechthin. Aber sollte sich erweisen, dass es die Möglichkeit einer Rückkehr des verlorenen Kindes gibt, dann müssten wir unsere Vorstellung von der Beziehung des Namens zum Benannten wohl revidieren. Zu lesen bliebe uns dann nicht die Identität des Zeichens mit dem Bezeichneten, sondern ihre Differenz. Diese Differenz ist nichts anderes als die Zeit selbst. Der Name Perdita bezeichnet darum nicht nur einen Verlust, sondern auch die Möglichkeit einer Wiederholung oder, mit anderen Worten, einer Cover-Version.
Jeanette Winterson bewahrt den Figuren und dem Plot von Shakespeares Stück die Treue, während es ihr zugleich gelingt, die Story in die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts zu versetzen, in der Finanzkapitalismus und Mafia-Kriminalität, Homosexualität und Babyklappen, Interkontinentalreisen und Computerspiele zum Alltag gehören. Die Freude beim Lesen des Romans besteht u. a. in dem resultierenden Effekt einer beständigen Wiedererkennung des Vertrauten in neuer Gestalt. Vom König wird Leo(ntes) zu einem skrupellosen Investment-Banker, der nicht bloß auf den Finanzmärkten, sondern auch in menschlichen Beziehungen nur danach strebt, Besitz zu ergreifen. Seine Frau MiMi ist eine erfolgreiche Sängerin, die ihrer Tochter Perdita ihr Gesangstalent vererbt. Und Shep(herd) und Clo(wn), Shakespeares Schäfer, sind bei Winterson die farbigen Betreiber einer Bar. Neben einer Geschichte über die Verstrickung von Liebe und Eifersucht, Verlangen und Verlust, Schuld und Reue ist Wintersons Roman auch eine Erzählung von sozialer Ungerechtigkeit, einer Kluft zwischen Armen und Reichen, welche die persönlichen Schicksale bestimmt.
Das Alltägliche und das Wunderbare
Man könnte Winterson freilich vorwerfen, dass die gesellschaftlichen Milieus und sozialen Beziehungen keineswegs besonders realistisch dargestellt werden, sondern eher als eine Art Szenerie fungieren, vor der sich die Geschichte als vorrangig zwischenmenschliche entfaltet. Doch die Forderung nach sozialrealistischer Darstellung widerspricht grundlegend dem Anliegen dieses Buches. Es ist vielmehr gerade die Durchdringung des Glaubwürdigen mit dem Unglaublichen, des Realen mit dem Fantastischen, des Alltäglichen mit dem Wunderbaren, die schon Shakespeares „Romanze“ kennzeichnet und die Winterson meisterhaft in das Register des modernen Romans transponiert. Schon Shakespeare stellt die „willing suspension of disbelief“ (Coleridge) seiner Zuschauer ganz schön auf die Probe, wenn er Das Wintermärchen damit enden lässt, dass die Statue der verstorbenen Hermione zum Leben erwacht. Winterson ist sich bewusst, dass ein versöhnliches Ende ihres Romans die Leser in ähnlicher Weise provoziert zu fragen, ob denn die Wunden wirklich geheilt, die Schuld wirklich beglichen, das Verlorene wirklich zurückgewonnen ist. Doch genau um diese Zumutung geht es. Dabei soll nicht alles Negative bloß verneint und in das zu Bejahende gewendet werden, damit irgendwie dem Ganzen am Ende doch noch ein Sinn abgewonnen wird. Wenn uns abverlangt wird, an das Wunderbare zu glauben, so steht dabei vielmehr die Frage nach unserem Vermögen auf dem Spiel, etwas wirklich zu empfangen, das alles, was wir erwartet, vorausberechnet und für glaubhaft erachtet haben könnten, übertrifft. Das Kalkül beherrscht die Zeitrechnung ebenso wie die Spekulation an den Finanzmärkten. Damit jemand wie Leo(ntes) lernt, etwas außerhalb seines eigenen Willens gelten zu lassen, muss ihm etwas zustoßen, das er nicht kontrollieren oder beherrschen kann. Der Name dafür lautet: Vergebung. In ihr tut sich der Raum in der Zeit auf, von dem der Titel des Romans spricht. Sie ist Teil einer Trias von möglichen Enden einer Geschichte, wie Winterson uns erklärt: Rache – Tragödie – Vergebung. Aber für sie gilt auch – anders als für Nietzsches Wiederkehr des Gleichen –, dass sie nur vom anderen Menschen ausgehen kann, jenseits der Verfügungsgewalt des Einzelnen. Winterson zeigt uns somit mehr als nur die dauernde Aktualität eines 400 Jahre alten Theaterstücks. Sie zeigt uns die Bedeutung unserer jeweiligen Gegenwart für die Vergangenheit.
[Die Rezension wurde auf der Grundlage des englischen Originaltextes erstellt und enthält darum keine Hinweise auf die Qualität der deutschen Übersetzung.]
Jeanette Winterson: Der weite Raum der Zeit
Albrecht Knaus Verlag, 288 Seiten
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3813506730
In Großbritannien gab es viele Wettwerbe und Schreibzirkel, anlässlich des Geburtstags von Shakespeare, das in die heutige Zeit umzuschreiben. Das war echt spannend.