Waldens „Neue Welt“ bleibt zu entdecken

COVER_Stanley Cavell_Die Sinne von Walden_Matthes&SeitzAm Unabhängigkeitstag 1845 zieht Henry David Thoreau sich zurück in die Wälder von Concord, um sich dort eine Hütte zu bauen. Von diesem Experiment berichtet sein Buch Walden, ein faszinierendes, aber bis heute in der akademischen Philosophie kaum beachtetes Werk. In Die Sinne von Walden, das nun in deutscher Übersetzung bei Matthes und Seitz erschienen ist, erschließt der seinerseits noch viel zu wenig bekannte amerikanische Philosoph Stanley Cavell (*1926) den Gedankenreichtum von Thoreaus Text. Es handelt sich um ein „Traktat über politische Erziehung“ von ungebrochener Aktualität. Leider in einer äußerst enttäuschenden deutschen Übersetzung.

von BERNHARD STRICKER

Foto: Bernhard StrickerVon Cambridge, Massachusetts, dem Ort, an dem sich die berühmte Harvard University befindet, wo Stanley Cavell bis in die 1990er-Jahre Philosophie gelehrt hat, fährt man nur etwa 20 Minuten mit dem Auto bis zum Walden Pond, dem Ort, an dem Thoreau sich 1845 seine Hütte errichtete. Manch einer kommt vielleicht hierher, weil er früher einmal den Film Club der toten Dichter gesehen und seither Thoreaus Worte im Ohr hat, die die Schüler zur Eröffnung ihrer geheimen Versammlungen im Dichter-Club lesen: „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten, was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, daß ich gar nicht gelebt hatte.“ Thoreau beschwört hier eine uns wohl allen vertraute Angst: Dass wir merken könnten, vielleicht sogar erst, wenn es bereits zu spät ist, dass wir ein Leben gelebt haben, das gar nicht unser eigenes war. Dafür braucht es vielleicht nicht mehr als das Gefühl, dass unsere äußeren Lebensumstände eine Notwendigkeit mit sich führen, die uns den Weg unserer Entwicklung vorschreibt. Gegen dieses falsche Bewusstsein von dem, was notwendig ist, geht Thoreau an, indem er uns zeigt, dass ein anderes Leben jederzeit, hier und jetzt, möglich ist.

Entfernungen

Foto: Bernhard StrickerEs gibt immer wieder Leute, die darüber spotten, dass die Wildnis, in die Thoreau sich vorgeblich zurückgezogen hat, in Wahrheit nur einen Spaziergang von der nächstgelegenen Stadt Concord entfernt sei. Der Walden Pond ist heute eine Art Naherholungsgebiet für die Städter aus dem Großraum Boston. Er ist noch nicht einmal besonders groß: Ich habe etwa eine Dreiviertelstunde gebraucht, um ihn zu Fuß zu umrunden. Doch die Leute, die auf diese Weise glauben, die Bedeutung von Thoreaus Unternehmen zu schmälern, haben nicht verstanden, dass „Walden“ nicht hier zu finden ist, an den Ufern des Walden Pond. Die Nähe oder Ferne von Walden ist keine Sache räumlicher Distanz von einem Ort, sondern eine Frage der Distanz, die wir in Bezug auf uns selbst und die Selbstverständlichkeiten unseres Lebens einzunehmen bereit sind, wenn wir das Buch Walden aufschlagen.

Denn Walden ist alles andere als nur oder auch nur primär ein Tatsachenbericht der Erfahrungen, die Thoreau bei seinem Leben in den Wäldern gemacht hat. Das wird einem schnell klar, wenn man Stanley Cavells schmales Büchlein Die Sinne von Walden zur Hand nimmt. Cavells auf Englisch bereits 1972 erschienene Abhandlung ist nicht nur die beste Begleitlektüre, um Thoreaus Philosophieren, vor allem seinen schier endlosen Wortspielen, folgen zu können. Es ist auch eines der schönsten Bücher von Cavell, von denen in Deutschland leider noch immer eine sehr geringe Zahl in Übersetzungen zugänglich ist (Nach der Philosophie, 2001; Die andere Stimme. Philosophie und Autobiographie, 2001; Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, 2002; Der Anspruch der Vernunft, 2006 – jetzt neu als Suhrkamp-Taschenbuch; Cities of Words, 2010).

Leben in Neu-England?

Mit einem pun, einem Wortspiel, beginnt Walden, wenn Thoreau seine Leser adressiert als „you who read these pages, who are said to live in New England“. Ich muss hier leider die englische Fassung zitieren, denn die deutsche Übersetzung (von Erika Ziha und Sophie Zeitz bei dtv) geht über das Wortspiel hinweg und übersetzt „you who are said to live in New England“ als „den Neuengländer, der diese Seiten liest“. Cavell erklärt uns, wie wir den Satz betonen müssen, damit uns sein Doppelsinn aufgeht, nämlich nicht: „Ihr, von denen man sagt, dass Ihr in Neu-England lebt“, sondern: „Ihr, von denen man sagt, dass Ihr in Neu-England lebt“. Dass man hier von Leben sprechen könne, ist keineswegs ausgemacht, allenfalls eine Sache des Hören-Sagens. Was „Leben“ wirklich heißt und ob die Zustände in Neu-England dem entsprechen – wenn man die finanzielle Abhängigkeit der Menschen, ihren mühevollen Arbeitsalltag, vor allem aber die Duldung der andauernden Sklaverei in den Südstaaten in Betracht zieht –, dies herauszufinden, ist Thoreaus erklärtes Ziel auf den Seiten von Walden.

Allegorien des Schreibens

Foto: Bernhard StrickerDie grundlegende Idee von Cavells Walden-Lektüre ist die folgende: Der Rückzug in die Wälder, der Bau einer Hütte dort, die Bearbeitung eines kleinen Bohnenfeldes und alles weitere, ja, Thoreaus ganzes Experiment ist als eine einzige Allegorie des Schreibens von Walden zu begreifen. Das Anliegen dieses Buches besteht in nichts Geringerem als darin, mit dem nationalen Epos der jungen Nation der Vereinigen Staaten zugleich eine transzendentale Unabhängigkeitserklärung zu liefern. Darum wählt Thoreau als Datum für den Beginn seines Experiments ausgerechnet den Jahrestag der Unabhängigkeit. Doch ein Nationalepos für Amerika lässt sich nicht schreiben, solange dieses Land zwar nominell entdeckt, aber seine Idee noch so wenig in der Wirklichkeit heimisch geworden ist. Die Situation, auf die Thoreau reagiert, stellt sich so dar: Amerika ist entdeckt und besiedelt, doch die Verheißungen, die mit der Neuen Welt verbunden waren, haben sich nicht erfüllt. Und es ist nicht so, als wäre das nicht allen bekannt. Trotzdem leben die Menschen einfach weiter dahin, so als wäre Amerika immer nur der Name für einen Fleck auf der Landkarte gewesen. Daher rührt die „stille Verzweiflung“, in der die Masse der Menschen verharrt. Weil das Leben, das sie führen, ihre Worte – „Freiheit“, „Gleichheit“, „Unabhängigkeit“, „Streben nach Glück“ – Lügen straft, muss Thoreau die Sprache gewissermaßen als Ganze wieder zum Leben erwecken, den Worten ihre Bedeutung in konkreten Lebenszusammenhängen zurückverleihen, damit seine Botschaft überhaupt erst bei den Menschen Gehör finden kann. Darum die Identifikation des Autors mit dem alttestamentarischen Propheten Hesekiel, darum seine schier endlosen Wortspiele, und darum seine Selbstdarstellung als krähender Hahn.

Worte

Foto: Bernhard StrickerDie Wiederbelebung der Sprache – das ist der Punkt, an dem Cavells Interesse an Thoreau sich mit seinen Arbeiten zu Wittgenstein und der Philosophie der normalen Sprache berührt. Wenn nicht schon aus Cavells Essays zur Sprachphilosophie hinreichend deutlich wurde, dass Sprechen über Sprache kein formalistisches Unterfangen ist, sondern die Reflexion all der Wirklichkeiten unseres Lebens einschließt, in denen Sprache eine Rolle spielt, dann wird es spätestens in diesem Buch unweigerlich klar. An die Bedeutung unserer Worte zu erinnern, hat für Thoreau eine unmittelbare politische Brisanz. Nehmen wir zum Beispiel das Wort „Flüchtling“: „In der Politik erlauben wir uns beispielsweise zu sagen, dass ein Mensch ein Flüchtling sei, der lediglich vor der Versklavung wegläuft. Das ist eine versuchte Wahl von Bedeutung, keine autonome Wahl von Worten.“

Thoreaus Rückzug in die Wälder ist deshalb alles andere als eine romantische Farce: Nicht ein Rückzug aus der Gesellschaft oder die Rückkehr zur Natur sind sein Programm. Es geht ihm um einen Rückzug seiner Stimme aus der kompromittierenden Anteilhabe am Gesellschaftsvertrag. Die Inszenierung, mit der er sich umgibt, indem er in die Einsamkeit geht, signalisiert, dass er sich der Zustimmung zu den gesellschaftlichen Zuständen seiner Gegenwart enthält. Nicht, um als Einzelner von dem Unheil ausgenommen zu sein, sondern um seinen Zeitgenossen die Augen zu öffnen dafür, dass sie für ihre Lebensweise in jedem Moment, in dem sie sie fortsetzen, Verantwortung tragen. Denn ein anderes Leben ist jederzeit und gleich nebenan möglich.

Lesen

Da die Bedeutung unserer Worte thematisch in Die Sinne von Walden auf dem Spiel steht, ist Genauigkeit der Lektüre eine hermeneutische Grundvoraussetzung, um diesem Buch gerecht zu werden. Nicht das Was, sondern vielmehr das Wie des Lesens entscheidet, wie Thoreau behauptet, darüber, ob es sich um ein „heroic reading“, ein „heldenhaftes Lesen“ handelt, das mit den Anstrengungen des Autors oder gar den Homerischen Helden der Ilias mitzuhalten vermag: „Bücher aus heroischen Zeiten werden, auch wenn sie in unserer Muttersprache gedruckt sind, stets in einer Sprache reden, die tot ist für degenerierte Zeiten. Mühsam müssen wir erst die Bedeutung jedes Wortes, jeder Zeile erarbeiten und sind gezwungen, aus unserem eigenen Vorrat an Weisheit, Tapferkeit und Großmut zu schöpfen, um einen tieferen Sinn in sie hineinzulegen, als der gewöhnliche Sprachgebrauch es erlaubt. […] Richtig lesen […] erfordert Training wie das des Athleten und die Hingabe fast eines ganzen Lebens. Bücher wollen mit derselben Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft gelesen werden, mit der sie geschrieben sind.“ Stanley Cavells Buch nimmt diese Forderung nach Hingabe an die Worte beim Lesen sehr ernst. Man kann es deshalb nicht anders denn als Ironie bezeichnen, dass dieser Text eine dermaßen ungenaue Übersetzung ins Deutsche erhalten hat. Je mehr man Cavells Buch schätzt, desto ärgerlicher wird man, dass hier eine Gelegenheit, uns diesen Denker in Deutschland näherzubringen, nicht verpasst, sondern verpatzt wurde.

Übersetzung

Bisherigen Rezensenten ist offenbar entgangen, dass die Übersetzung in verheerendem Maße sinnentstellend ist. Dabei braucht man nicht einmal immer mit dem Originaltext Vergleiche anzustellen. Zahlreiche Sätze dürften sich einem genauen Lesen als nicht ohne Weiteres verständlich erweisen. Um der Leistung des Übersetzers Klaus Bonn Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss man immerhin anerkennen, dass Thoreau und Cavell gleichermaßen hohe Ansprüche an das übersetzerische Können stellen. Dass man gleichwohl keinem Leser diese Übersetzung empfehlen kann, sei hier an einem Beispiel vorgeführt, dem ersten Absatz des ersten Kapitels:

„The very greatest masterpieces, when one is fresh from them, are apt to seem neglected. At such a time one knows, without stint, how unspeakably better they are than anything that can be said about them. An essential portion of the teaching of Walden is a full account of its all but inevitable neglect. I assume that however else one understands Thoreau’s topics and projects it is as a writer that he is finally to be known.”

In der Übersetzung von Klaus Bonn:

„Die allergrößten Meisterwerke, wenn sie noch unverbraucht sind, scheinen wie gemacht dazu, dass man sie nicht beachtet. Zu der Zeit weiß man ohne Einschränkung, wie unaussprechlich besser sie als alles sind, was über sie gesagt werden kann. Ein beträchtlicher Teil des Lehrens über Walden trägt dieser so gut wie unvermeidlichen Nichtbeachtung in vollem Maße Rechnung. Ich gehe davon aus, dass, wie auch immer man sonst Thoreaus Themen und Projekte auffasst, er letztlich für sein Schreiben bekannt ist.“

Dass sich die Übersetzungsfehler schon in diesem kurzen Abschnitt regelrecht häufen, wird an den Unterstreichungen kenntlich. Es geht nicht darum, dass die Meisterwerke „noch unverbraucht“ sind, sondern darum, dass sie, wenn man sie gerade erst gelesen hat und noch ganz frisch unter ihrem Eindruck steht („when one is fresh from them“), nicht die Beachtung erhalten zu haben scheinen, die sie verdienen. Nicht das „Lehren über Walden“, sondern Waldens eigene Lehre („the teaching of Walden“; genitivus subjectivus) trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie ihn antizipiert. Und Thoreau ist nicht für sein Schreiben bekannt (sicher, auch das kann man sagen) – seine Leistung wird, für was auch immer man ihn sonst schätzt, schließlich vor allem als die eines Schreibenden zu beurteilen sein („he is to be known“… „as a writer“). Der Sinn dieser Passage und wie sie zu übersetzen gewesen wäre, wird aus dem Gesamtzusammenhang von Die Sinne von Walden hinreichend deutlich. Man kann daher nur vermuten, dass es der Übersetzer bei einem Vorgehen mot à mot hat bewenden lassen. Das Ergebnis ist, dass dieser erste Absatz, anstatt die systematische Bedeutung der Vernachlässigung von Thoreau in der Philosophie hervorzuheben, den Eindruck erwecken muss, hier verleihe Cavell schlicht dem Übermaß seiner Verehrung für den leider viel zu wenig beachteten Thoreau Ausdruck.

Nichtbeachtung

Auch für Cavell selbst gilt, dass er letztlich als ein Schreibender Anerkennung wird finden müssen. Diese Entdeckung steht nicht bloß in Deutschland noch aus. Denn der Anerkennung, der sein Denken sich auch thematisch als einer Voraussetzung des Sprechens und Schreibens widmet, widersetzt sich hartnäckig das Vorurteil, dass Cavells Texte hermetisch, stilistisch eigenwillig und unerträglich selbstbezüglich seien, obgleich dies alles für Cavell kaum mehr gelten dürfte als für Lacan, Derrida oder Foucault. Der Eindruck von Cavells Unzugänglichkeit, zu dem die Übersetzung dieses Textes eher noch beitragen dürfte, wird von Mark Greifs Essay „Cavell als Erzieher“ hingegen in erfrischender Weise korrigiert. Der auf Englisch zuerst 2011 in der Zeitschrift n+1 erschienene Essay ist der deutschen Ausgabe von Cavells Studie über Walden als Nachwort beigegeben, in einer Übersetzung von Kevin Vennemann. Auf autobiografische Weise nähert sich Greif zunächst seinem philosophischen Lehrer, dessen Vorlesungen er als undergraduate student in Harvard besucht hat. Offenbar mit Gewinn, denn Greif gelingt es, Cavells umfangreiches Werk nach seinen bestimmenden Themen zu ordnen und so eine kompakte Einführung in den Skeptizismus, den Perfektionismus, die Filmphilosophie und die Komödie der Wiederverheiratung zu geben. Vielleicht kann dieser Aufsatz bei dem ein oder anderen Interesse – eines von Thoreaus und Cavells Lieblingsworten – an einem der vielseitigsten und inspirierendsten Gegenwartsphilosophen wecken. Mit Cavells Texten entdecken wir ein Stück von Amerika, dem Amerika, für das – genau wie für Walden – immer noch gilt: „America exists only in its discovery.“

Stanley Cavell: Die Sinne von Walden. Mit einem Essay von Mark Greif
Matthes und Seitz, 204 Seiten
Preis: 24,90 Euro
ISBN:
978-3882210866

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