Das Düsseldorfer Schauspielhaus hebt unter der Regie von Matthias Hartmann mit Der Idiot nach Fjodor M. Dostojewskij eine große Romanadaption aus der Taufe. Das Ensemble rund um Hauptdarsteller André Kaczmarczyk transportiert den Stoff zwar unverkrampft auf die Bühne des Central, die Inszenierung kommt jedoch nicht ohne leidige Tricks und Gags zurecht.
von HELGE KREISKÖTHER
Der Idiot, Dostojewskijs zweiter großer Roman, wurde während eines Europaaufenthalts 1867/68 verfasst und präsentiert mit seinem Titelhelden den Mustertypen eines bedingungslos gutherzigen und damit zum Scheitern verurteilten Menschen. Fürst Lew Myschkin, den epileptische Anfälle quälen, kehrt von seinem Schweizer Sanatoriumsaufenthalt zurück in die Heimat Sankt Petersburg. Dort verschafft er sich mittels seiner Natürlichkeit und Tiefgründigkeit Zutritt zu den Familien Jepantschin und Iwolgin. Sogar die Frauenherzen fliegen ihm ungeachtet seiner mittellosen Erscheinung zu. Allerdings vermag er weder Aglaja Iwanowna noch Nastassja Filippowna dauerhaft an sich zu binden, da Mitleid und Leidenschaft miteinander verschwimmen. So scheitert Myschkin daran, in der Welt sein Glück zu machen, und erst recht daran, die zwischenmenschlichen Beziehungen in seiner Umgebung zurechtzurücken. Am Ende steht er schizophren und vollends vereinsamt da – der Idealist wird zum Opfer einer gesellschaftlichen Tragödie.
Zwischen Nihilismus und Religiosität, zwischen Feudalismus und Kapitalismus, Mätressentum und aufrichtiger Liebe entwirft Dostojewskij, ähnlich wie schon Turgenjew in Väter und Söhne, das russische Panorama einer Epoche im weltanschaulichen Umbruch. Allgegenwärtig ist dabei der schmale Grat zwischen Hingabe und Idiotie.
Graue Ironie
Bühnenfassungen nach Dostojewskij scheinen momentan (wieder) en vogue zu sein, feierte doch Mitte September bereits Verbrechen und Strafe (ehemals Schuld und Sühne) in der Version Jan Klatas am Schauspielhaus Bochum Premiere. Matthias Hartmann, der dort von 2000 bis 2005 Intendant war, gilt trotz seiner 53 Jahre bereits als „alter Hase“ im Regiegeschäft, sodass die Erwartungen an seinen Dostojewskij-Abend womöglich besonders hoch liegen.
Auffälligstes Inszenierungsmerkmal ist zweifellos der Versuch, den von Swetlana Geier übersetzten Romantext auf eine Metaebene zu bringen: So gibt es keinen „Erzähler“ auf der Bühne oder aus dem Off, sondern alle Darsteller sprechen die ihnen (oder anderen) zugewiesenen Beschreibungen selbst und wechseln somit kontinuierlich zwischen Prosa und wörtlicher Rede (Dramaturgie: Janine Ortiz). Weiterhin ruft man expressis verbis Dostojewskij oder Bühnentechniker herbei, zieht sich gegenseitig mit der (nichtigen) Relevanz im verbleibenden Plot auf oder verweist, wie ein werkgetreuer Regisseur bei der Hauptprobe, auf die Fischer-Taschenbuchausgabe. All diese Kniffe bringen Tempo ins Spiel und sorgen oftmals für Lacher; mit der Zeit nutzen sie sich jedoch ab und drohen, den Stoff zu einer Clownsnummer zu degradieren. Die gravitätische „russische Seele“ ist schwer verdaulich, allerdings gibt der Roman selbst mit seiner Karikierung des verstockten Beamtentums, neurotischer Kleinbürger, hysterischer Damen und schrulliger Deutscher schon „genug“ Anlass zum Schmunzeln.
Die graue Guckkastenbühne mit ihren abgespalteten Randbereichen (Bühne: Johannes Schütz) wirkt dagegen sehr schlicht, der denk- und seelenlastigen Handlung angemessen. Raffiniert verschiebbare Trennwände sorgen aber immer wieder für das Entstehen neuer (Vor-)Räume innerhalb der Petersburger Villen. Geräuschartig untermalende Soundeffekte (Musik: Parviz Mir-Ali) fügen sich in die konzentrierte Stimmung, deuten mitunter die psychische Fragilität der Figuren an.
Dunkle Seelen
Wie Dostojewskijs Vorbild Nikolaj Gogol seinen einzigen Roman mit Tote Seelen betitelte, so stellt Myschkin gegen Ende fest, dass er überall nur von „dunklen Seelen“ umgeben ist. Grandios mimt ihn André Kaczmarczyk mit einer enormen Bandbreite von einfältigem Bübchengrinsen bis hin zu woyzeckhafter Geistesverstörtheit. Auch Christian Erdmann als verroht-hitziger Anarchist Rogoschin oder Yohanna Schwertfeger als imposante Mätresse a. D. Nastassja Filippowna erspielen sich großen Beifall. Die Töchter der Generalin Jepantschina (quirlig: Rosa Enskat) geraten dagegen etwas blass. Dies ist aber weniger auf die schauspielerischen Qualitäten von Cathleen Baumann in der Doppelrolle Alexandra/Adelaida, geschweige denn auf diejenigen von Lieke Hoppe alias Aglaja zurückzuführen, als vielmehr auf den mangelnden dramaturgischen Reiz der Damen. Kilian Land gestaltet Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin dagegen zu einem sehenswerten Ekelpaket aus Berechnung, Selbstmitleid und Hohn.
All diese exzentrischen Charaktere benutzen den hochsensiblen Myschkin, der nicht müde wird, die Liebe zum Leben zu predigen, als Beruhigungsmittel für ihre Krisen und Psychosen – weil sie zu spät erkennen oder es nicht eingestehen, dass er tatsächlich bar jeder Berechnung handelt und vielleicht sogar ein liebenswerter Mensch ist, der es nicht verdient, instrumentalisiert zu werden. Gleichwohl lässt sich der Fürst – das macht auch Hartmanns Inszenierung deutlich – keineswegs als ausgemachter Held glorifizieren, denn das interessanteste an Dostojewskijs Roman ist sicherlich der Umstand, dass der „Idiot“ trotz seiner „reinen Seele“ mitverantwortlich ist für sein schlussendliches Elend: Der Zwang, allen ihr bestmögliches Leben zu bescheren, führt zu Entscheidungsunfähigkeit und innerer Zerrissenheit. Eine der letzten Szenen in Düsseldorf zeigt Myschkin daher passenderweise, wie er zwischen einer gelben und einer weißen Bühnenhälfte hin- und herstrauchelt, unfähig, Position zu beziehen. Erlösung für den Erlöser gibt es nicht. Insofern lässt sich der „Idiot“ durchaus als neuzeitliche Parallele zu Christus auffassen, dessen schmerzvolle Porträtierung durch Hans Holbein den Jüngeren – Dostojewskij bezieht sich in seinem Werk mehrfach auf sie – zweimal auf die Bühne projiziert wird. Für Hartmann besteht die Quintessenz des Werks in der Sisyphosarbeit der Menschenliebe: Obwohl nur selten mit Erfolg belohnt, gibt es keine Alternative zu ihr. Ähnlich verhält es sich wohl mit Dostojewskij-Adaptionen: Obwohl selten alles gelingt, sind sie mittlerweile unentbehrlich. In Düsseldorf qualmen nach über vier Stunden metaphysischer Wortgefechte verständlicherweise die Köpfe des dennoch sehr wohlwollenden Premierenpublikums.
Informationen zur Inszenierung
Nächste Vorstellungen:
Samstag, der 15. Oktober
Sonntag, der 16. Oktober
Samstag, der 12. November