Hinfallen ist wie Anlehnen, nur später, ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, Gedichten und allem, was sich dazwischen bewegt. Sebastian 23, einer der bekanntesten Poetry Slammer Deutschlands, entzieht sich als Poet, Gesellschaftskritiker und Kabarettist jeglicher Einordnung. Sein Buch kann wie eine Tragikomödie über diese Welt gelesen werden: In den lustigen, ernsten, häufig ironischen Texten blickt der Leser auf die Gegenwart wie durch ein Kaleidoskop und entdeckt ihre schillerndsten Farben.
von ANNA BREIDENBACH
Viele der insgesamt 56 Texte wurden ursprünglich als Vorträge für einen Poetry Slam geschrieben. Sebastian 23 verarbeitet darin globale Themen und Probleme mithilfe überzogener und zugleich treffender Fantasien: Er thematisiert den Massenkonsum, den Ursprung des Hurensohns und das stumpfe Absinken eines Großteils der Menschen in sozialen Medien wie Facebook. Dann wiederum macht er auf den Klimawandel aufmerksam, schließlich interessiert es niemanden, dass „Knut die Scholle wegschmilzt“. Beinah andächtig beschreibt er seine Liebe zur Natur und zur weiten Landschaft des Nordens, wo man „mittwochs schon sieht, wer sonntags zu Besuch kommt“. Doch diese Idylle wird gestört: Großkonzerne wie Google, Nestlé und Monsanto teilen die gesamte Welt unter sich auf. Abhilfe kann erst der Gutmenschen-Cowboy schaffen, der alle Bösmenschen erschießt. Irgendwann jedoch wird dem lyrischen Ich das Töten zu viel und es bringt den Gutmenschen schließlich um. Dann wiederum kehrt er zurück zu erfrischenden Lokalthemen, wenn er seine Heimat Bochum beschreibt, in der „Grau keine Farbe, sondern ein Lebensgefühl“ ist. Oder wenn er eine in einigen Texten wiederkehrende Gruppe Nazis literarisch veralbert.
Die Welt versinkt im Chaos – und trotzdem gibt es Hoffnung
Doch abgesehen von diesen konkreten Themen werden seine Fragmente und Gedichte auch häufig abstrakt: Zum Beispiel wenn er beschreibt, wie unsere katalogisierte Welt, die jedes Ding beim Namen nennen kann, die unsagbare Welt hinter der Sprache erwürgt. Wie Euphemismen unser Denken verändern, wieviel Angst das Begreifen eines unendlichen Universums macht und wie stumpf unsere Gesellschaft in ihrem eigenen Alltag verharrt.
Eine Gliederung mehrerer literarischer Werke unter einen Oberbegriff erfolgt, jedoch sind Botschaften und Themen der jeweiligen Blöcke nicht scharf voneinander abgegrenzt. Nicht alle Stücke aus „Lachmöwen im Landeanflug“ sind vorbehaltlos lustig, und nicht alle Texte der Gruppe „Gruben graben und grübeln“ haben einen klar nachdenklichen Charakter.
Sebastian 23 zeichnet die Welt wie ein expressionistisches Gemälde: überzogen und überdreht, ein morbides Chaos, das dem Untergang geweiht zu sein scheint. Doch trotzdem verfallen seine Texte nie in Hysterie, sondern brechen sich immer wieder selbstironisch auf. Und manchmal gibt er dem Leser, ursprünglich dem Zuhörer, am Ende eine Botschaft mit: Verlasse dein stumpfes Dasein, habe Mut zur Aktion und zur Veränderung:
„Haltet eure Ohren beide offen,
denn in der Ferne,
in der Ferne hör ich leise Glocken.“
Ein karikiertes Selbstporträt
Häufig spricht der Autor auch über sich selbst. Er beschreibt seine Liebe zur Sprache und wie sie ihn als Kind und Jugendlicher von der Gesellschaft abgeschottet hat, er karikiert seine verpatzten Dates und seine Nervosität gegenüber Frauen. Seine frühere Unsicherheit und Schüchternheit sind Thema, genau wie sein Stolz und sein Selbstbewusstsein heute. Er hat keine Angst davor, alles in den Dreck zu ziehen, was dort nicht schon liegt. Seine Analysen sind knapp, treffend und messerscharf. Er kritisiert, karikiert und prangert an, ohne die Welt verbessern zu wollen, frei nach dem Motto:
„Ich gebe, statt zu stressen und nehme, statt zu hoffen“
Der innovative und kreative Umgang mit Sprache ist faszinierend und zeigt auf, wie viele Möglichkeiten des Ausdrucks die deutsche Sprache bietet. Sebastian 23 kehrt den Sinn der Wörter um, indem er tote Metaphern zum Leben erweckt, seine Wortspiele und syntaktischen Experimente liefern sich einen rasanten Schlagabtausch. Trotzdem bleibt sein Stil natürlich und unverfälscht, als fließe ihm alles aus dem Gehirn durch die Feder direkt aufs Papier. Dabei springt er elegant und behände von den höllischen Tiefen vulgärer Ausdrücke bis hinauf auf die Bergspitze menschlicher Ausdruckskraft.
Sebastian 23 möchte mit seinen Texten nicht die ganze Welt umfassen und erklären. Aber an wichtigen Punkten setzt er genau die passenden Nadeln, die den Leser schmerzen, zum Lachen bringen und nachdenklich stimmen. Es heißt, das Zeitalter der IT ließe unsere Sprache verkümmern. Dieses Buch liefert einen hervorragenden Gegenbeweis. Es zeigt, wie wir angesichts unserer chaotischen Welt nicht verstummen müssen, sondern mit einer innovativen Ausdrucksweise die Dinge, die um uns geschehen, begreifen können. Wie es in dem Gedicht „Rezept für Jetzt“ heißt:
„Es geht von jedem Punkt in jede Richtung – außer rückwärts.“
Sebastian 23: Hinfallen ist wie Anlehnen, nur später
Lektora, 229 Seiten
Preis: 9,90 Euro
ISBN:978-3-95461-081-5