So hip kann man gar nicht sein: Thomas Meinecke legt „Selbst“ auf

Thomas Meinecke - Selbst Cover: Suhrkamp

Thomas Meinecke – Selbst Cover: Suhrkamp

Im „verwilderten Gestrüpp neben dem Hintereingang zum Institut für vergleichende Irrelevanz“ ereignen sich Dates zwischen Menschen, die offensiv mit ihrer geschlechtlichen Identität spielen: Das ist Programm, aber ist es mehr?

von STEPHANIE HEIMGARTNER

Eva, Venus und Genoveva widmen sich den Fragen der Gegenwart. Dazu zählt, „welche androgynen Models sich bei Shootings die Brüste WEGBINDEN müssen und welche nicht“; ob „nicht sämtliche Sprache zur Sexualität in phallologischer Grammatik verfasst“ ist oder welche Art Feminismus für Transgenderpersonen infrage kommt. Die drei Frauen wohnen in einer WG in Frankfurt und ihre assonanten Namen deuten darauf hin, dass es sich bei ihnen eher um eine Dreifaltigkeit weiblicher Performativität handelt, gerade weil sie solche eminent weiblichen Insignien aufweisen wie einen „amtlichen thigh gap“ (Genoveva) oder einen „Schmollmund“ und Haar „wie flüssiges Gold“ (Eva). Venus trägt eigentlich den prosaischen Namen Karin und arbeitet nach einem Ivy-League-Studium als androgynes Model. Eva ist promovierte Kunsthistorikerin und Genovevas Hobby ist die Sexualwissenschaft, in der sie sich „autodidaktisch“ fortbildet. Sie unterhalten interessanterweise ausschließlich heterosexuelle Beziehungen, teils mit dem gleichen Mann zur gleichen Zeit, vor allem aber machen sie Selfies auf dem Klo, lesen Interviews mit weiblichen DJs, schauen experimentelle Sex-Videos auf YouTube oder beschäftigen sich mit Statements wie dem offenen Brief von Sinéad O’Connor an Miley Cyrus über deren viral gewordenen Twerking-Auftritt bei den MTV Music Awards. Auch das Buch wird nicht verschmäht: Mittels erotischer Novellen von Anaïs Nin, Selbstbefragungen des Gendertheoretikers Paul B. Preciado oder Texten des vom Dekonstruktivismus geprägten Philosophen Jean-Luc Nancy über das „Verhältnis“ suchen die Protagonisten, ihren eigenen ‚Verhältnissen‘ auf die Spur zu kommen. „Riesen-Thema, seufzt Henri, aber irre interessant.“

Eine Synthese aus „multiplen Zeitläuften“ und „ästhetischen Gletscherspalten“

Zitate, Textsplitter und Beobachtungen der Figuren, deren eine Hälfte reale Autoren, DJs, Models, Wissenschaftler sind, darunter natürlich Meinecke selbst, vermengen sich unauflöslich und konsequent zweisprachig (neben deutsch auch englisch) zu dem, was man eine diskursive Woge nennen könnte. Wenn man informiert ist über die Protagonisten und Themen und halbwegs versteht, wovon die Rede ist, dann macht der Roman manchmal sogar Spaß. Denn er tut das, worauf schon der Titel sehr deutlich verweist: Die drei Protagonistinnen und ihr Freundeskreis spiegeln sich in einem facettenreichen medialen Universum, spielen damit, versuchen, auf der Performativitätswelle zu surfen, ohne als Individuen bestimmbar zu werden.

Interviews, Video-Statements, Blogs werden nicht einfach nebeneinandergestellt, sondern in das Gespräch der drei Frauen und ihrer temporären Liebhaber hineingezogen, durch dieses gebrochen und reflektiert, die Frauen selbst und ihre am Rand geschilderten erotischen Beziehungen und Verwicklungen bleiben dagegen bewusst blass und klischeehaft. Sie leben durch das Gespräch, durch den intellektuellen Faden, der das Buch durchzieht, werden aber nicht eigentlich zu greifbaren Figuren, schon gar nicht zu solchen, mit denen man mitfühlen oder die man verstehen will.

Begeisterte Authentizität vs. diskursive Kakofonie

Womöglich das Interessanteste an diesem Textgroove sind die eingestreuten, aus verschiedenen Quellen stammenden Schnipsel über eine Gruppe deutscher Auswanderer, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Texas mehrere Siedlungen gründeten, darunter die Kolonie „Bettina“, benannt nach Bettina von Arnim. Natürlich sind auch diese Texte Teil einer Art Forschungsprojekt, mit dem sich Venus seit Jahren beschäftigt. In den Ausschnitten wird vom Idealismus der Auswanderer berichtet, von ihrer gut organisierten und hervorragend eingerichteten kleinen Gemeinschaftswelt, von ihrem ungewöhnlichen Umgang mit den benachbarten Komantschen, von ihrem überzeugten und unter ihren Nachbarn wenig populären Abolitionismus; daneben wird Bettina von Arnim selbst als Namenspatronin anderer Art in den Blick gerückt. Ihre Entschlossenheit zur emotionalen Authentizität, das Konzept des Lebens als eines sowohl biografischen wie künstlerischen Projekts der Begeisterung, der emotionalen Unantastbarkeit steht Pate für diese Kolonie, die nach kurzer Zeit scheitert und die der Roman kontrapunktisch der Frankfurter Wohngemeinschaft entgegensetzt. Utopien verlaufen im 21. Jahrhundert anders als im 19.: Vor allem die Vorstellung eines endgültigen Ankommens hat sich verflüchtigt, Ideal ist nun eher ein rhythmisches Dahingleiten in wechselvollen Umständen, das kontingente Erleben momentaner Harmonie in der allgemeinen Kakofonie des Alltags.

Der Vorzug von Meineckes Roman, seine sichtbare Konstruiertheit, sein offensichtliches Programm der Darstellung eines Konzepts: wie Menschen nicht Autoren, sondern höchstens Schaltstellen des Diskurses sind; wie sich körperrelevante Erfahrungen in performativer Weise ereignen beziehungsweise im Gespräch aufgehoben werden; wie eigene Gedanken nicht von intellektuellen und alltäglichen Impulsen zu trennen sind – dieser Vorzug ist auch seine Schwäche: Nichts an all dem regt auf. Die erotischen Beziehungen dieser überhippen Intellektuellen ersticken an ihrer Banalität, sogar wenn man die selbstironische Volte in Anschlag bringt, mit der sie geschildert werden; genderpolitisch bewegt sich nichts, außer man glaubt an die Bewegung allein durch die Fortsetzung des Gesprächs mit Gleichgesinnten. Das Innen und Außen des Romans ist ununterscheidbar: Bereits anlässlich des Erscheinens von Selbst gab es Anfang Dezember einen Workshop an der LMU München, Mitte Januar wird eine Lesung aus dem Roman in den Münchner Kammerspielen von der Gender-Studies-Professorin Paula-Irene Villa moderiert. Zu später Stunde legt wie im Roman der Autor auf.

Als Teilnehmerin an intellektuellen Genderdiskursen kann man den eigenen Habitus von dem des Romans halb amüsiert, halb erschrocken entlarvt sehen; als Leserin fühlt man sich konventionell, wenn es einen stört, dass man hier nicht bewegt, vielleicht nicht einmal gebraucht wird; das Gespräch wird auch ohne die Aufmerksamkeit und Teilhabe der Leserin (oder des Lesers) weiter hin- und herschwappen. Wie naiv und old school es ist, von einem Roman eine Illusion zu wollen, Figuren mit echten Gefühlen und existenziellen Antrieben, auch das führt Selbst vor Augen.

 

Thomas Meinecke: Selbst
Suhrkamp, 472 Seiten
Preis: 25 €
ISBN: 978-3-518-42548-0

 

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