Von Junkies, Stalkern und Betrügern

cover_waldis_marktplatz-der-heimlichkeiten_piperMarktplatz der Heimlichkeiten ist weniger ein Roman als eine Sammlung von Porträts, die dem Leser wie bei einem Museumsrundgang begegnen. Die Menschen auf den Gemälden sind sehr verschieden, und doch haben alle zwei Dinge gemeinsam: Sie arbeiten für ein großes schweizerisches Medienunternehmen – und sie hüten ein Geheimnis. Niemand führt das Leben, das er vor Kollegen, Vorgesetzten oder Untergebenen präsentiert. Angelika Waldis zeigt Abgründe hinter mühsam errichteten Fassaden und beschreibt ihre Figuren so virtuos, dass der rote Faden der Handlung zwischen den Seiten verloren zu gehen droht.

von ANNA BREIDENBACH

Der Medienkonzern „NeoMedia“ gibt einige Zeitungen und Zeitschriften heraus und beschäftigt die verschiedensten Angestellten. 28 von ihnen stellt Angelika Waldis vor, jede Person wird durch einen Tag begleitet. Die Charaktere reichen hierarchisch von der Verträgerin Erna und dem Hauspostboten Tino über den Historiker Fabian und die Reporterin Fanny bis hinauf zum Chefredakteur Sven und dem Verwaltungsrat Albert. Alle Personen haben ein Geheimnis – eine kriminelle Vergangenheit oder einen speziellen Tick –, das sie sorgsam hüten und auf dem mancher wie auf einem Pulverfass hockt. Süchte und Phobien, unerfüllte Wünsche sowie Beziehungs- oder Familienprobleme beschäftigen ihre Gedanken und bringen sie in ihrem Alltag durcheinander. Die Figuren leben in der ständigen Angst, von ihren Kollegen enttarnt zu werden. So arbeiten die Drogenabhängige, der Stalker, der Dieb und der Betrüger misstrauisch und ängstlich nebeneinander.

Die verpasste Zentralisation

Die ersten vierzehn Figuren werden an einem Tag im Juni vorgestellt, die anderen im Dezember. Jeder Charakter steht dabei für sich. Zwar begegnen sich einige Personen, in der Kantine oder manchmal auf dem Gang, jedoch bleiben sie alle mit ihren Gedanken und Problemen allein und isoliert. So entsteht keine stringente Handlung, der Roman präsentiert sich eher als ein Nebeneinander verschiedener Figuren, die sich bis auf wenige Ausnahmen nicht entwickeln oder mit anderen in Kontakt treten. In vielen Fällen erfährt der Leser nicht mehr über die Person als in dem Abschnitt, in dem er ihn oder sie hautnah begleitet hat. Gerade deshalb ist der Titel Marktplatz der Heimlichkeiten auch eher unpassend. Mit den Geheimnissen der Personen wird eigentlich nicht verhandelt, wenige werden verbreitet und ans Licht gebracht.

Zwischen den Porträts kommt stets die Volontärin zu Wort, sie ist somit der einzige Charakter, auf den der Leser immer wieder zurückkommt. Doch sie bleibt als Person eine ominöse Gestalt und ihre fragmentarischen Passagen, in denen sie ihre Arbeit kommentiert, bauen nicht aufeinander auf. Sie bringt keine Stringenz in den Roman, obwohl sie durch ihre Frage, wer sie eigentlich sei, in der letzten Passage die zentrale Thematik des Romans offenlegt: Woraus besteht unsere Identität?

Zwei Betriebsfeste bilden anscheinend knotenartige Bezugspunkte. Im Juni ist es die Taufe einer neuen Zeitung, der „NSZ am Sonntag“, im Dezember ist es die Jubiläumsfeier „100 Jahre NSZ“. Hier treffen fast alle Figuren aufeinander, doch obwohl diese Veranstaltungen eine Zusammenführung verschiedener Handlungsstränge bewirken könnten, bleibt eine solche Zentralisation in beiden Fällen völlig aus. Vieles bleibt offen und ungelöst und der Leser wartet vergebens auf eine große Enthüllung. Zwar bekommt einer der Chefs am Ende der Jubiläumsfeier eine geheimnisvolle Warnung vor einer Bombe in der Bühnentorte. Es bleibt jedoch die Frage, woraus die Bombe besteht, wer sie platziert hat und welchen Zweck er oder sie damit verfolgt. Wenn es die Absicht der Autorin war, den Leser unbefriedigt und etwas ratlos zurückzulassen, so ist ihr dies zweifellos gelungen.

Zeitdruck, Liebe und die Angst

Angelika Waldis’ Stil ist hautnah. Sie bringt die Gedanken, Wünsche und Gefühle ihrer Figuren durch einen personalen Erzähler prägnant zum Ausdruck. Die Kapitel wirken wie Bewusstseinsströme, die durch den Gebrauch einfacher Umgangssprache und teilweise abgehackter Sätze eine große Nähe des Lesers zu den Figuren erzeugen. Mitunter werden auch Ausschnitte von Artikeln und Berichten, an denen die Figuren gerade schreiben, verarbeitet.

Waldis schlägt außerdem ein hohes Tempo an. Erzählerisch hält sie sich nicht mit der Beschreibung von Abläufen auf, sondern springt von einer gegenwärtigen Situation zur nächsten. Die Zeit spielt auch für die Figuren eine große Rolle. Sie ist ein drängender Faktor, der die Handlungen der Personen beschleunigt und nach vorne treibt. Fast alle Personen stehen durch ihre Arbeit unter zeitlichem Druck. Waldis erzeugt durch ihre Schreibweise treffend die Atmosphäre eines Medienhauses, in dem die Angestellten unter permanentem Abgabe- und Termindruck stehen. Ebenfalls zentrale Motive sind die Liebe und die verschiedenen Beziehungen, die fast alle Figuren gleichermaßen beschäftigen. Ob nun Margrets Mutter eine Trinkerin ist, Richard seine Ehefrau betrügt oder Fabians Vater nichts von der Homosexualität seines Sohnes erfahren darf: Eine einfache Beziehung gibt es nicht.

Die Geheimnisse der Personen werden außerdem stets mit einer allgegenwärtigen Verlustangst verknüpft, denn stets lauern personelle Kürzungen bei „NeoMedia“. Ihre Arbeit durch die Aufdeckung ihrer Geheimnisse zu verlieren, ist die Angst beinahe aller Figuren in Marktplatz der Heimlichkeiten. Privatleben und Job vermischen sich, und so sehr die Figuren auch versuchen, diese Sphären zu trennen, so werden sie doch in ihrer Arbeit stets durch ihr „anderes“ Leben beeinflusst. Es ist beeindruckend, wie realistisch Waldis ihre zentralen Motive des Zeitdrucks, der Liebe und der Verlustangst in ihren Figuren zu spiegeln vermag.

Insgesamt gelingt Angelika Waldis ein sehr bunter Querschnitt der modernen Arbeits- und Lebenswelt, auch wenn die Gedrängtheit der vielen verschiedenen Probleme, die ein Mensch in unserer Gesellschaft haben kann, natürlich unrealistisch ist. Ihr Roman ist sehr vielschichtig und komplex und regt zum Nachdenken über die eigene Identität an, so wie es die Volontärin tut. Sie macht ihre fehlerhaften Charaktere zu liebenswerten Geschöpfen. In seinem fragmentarischen Charakter bleibt der Roman jedoch eher eine Porträtsammlung als eine Geschichte und müsste als eine solche tituliert werden.

Angelika Waldis: Marktplatz der Heimlichkeiten
Piper, 328 Seiten
Preis: 12,00 Euro
ISBN: 978-3-492-30948-6

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