Es scheint, als ob trotz wiederholter Hackerangriffe, Wikileaks-Skandale und Geheimdienstenthüllungen noch immer kein umfassendes Bewusstsein über die Überwachung, die unser alltägliches Leben durchdringt, besteht. Mag es daran liegen, dass schlicht die wenigsten verstehen, was hinter den zahlreichen Bildschirmen passiert, die uns umgeben? Wissen wir überhaupt, wie es so weit gekommen ist? Oder ist das Problem noch einfacher: Sind Hacker und ihre Geschichten einfach nicht sexy genug? Mit Kryptozän legt Pola Oloixarac eine Geschichte des Netzes und seiner Akteure vor, die Sicherheit(en) umfassend infrage zu stellen vermag.
von SOLVEJG NITZKE
Cassio Liberman Brandão da Silva ist eine der Figuren, die nur allzu geeignet erscheint, eine der neuen Heldengeschichten à la Bill Gates oder Steve Jobs zu erzählen. Der geniale, irgendwie nie ganz dazu gehörende Nerd, dessen brillante Idee schließlich die Welt verändert oder der, wie Edward Snowden, ungeachtet der Gefahr, die sich für ihn daraus ergeben kann, sein Wissen mit der Welt teilt, kann sich einiger Sympathien sicher sein. Doch dankenswerterweise verzichtet Pola Oloixarac darauf, ihrem Helden solche Attribute zu verleihen. Denn auch wenn Cassio ohne Zweifel ebenfalls ein genialer Nerd ist, sichtbarer Erfolg und öffentliche Anerkennung bleiben ihm verwehrt. Daraus ergibt sich ein interessantes Verhältnis zwischen LeserIn und Protagonist, das trotz aller Faszination für den „Helden“ eine Distanz beibehält, die den Roman allerdings letztlich umso spannender macht.
Ein typischer Nerd?
Cassios Leben dreht sich um das Netz. Genauer, es dreht sich darum, die Codes zu knacken, die ihm den Zugang verwehren wollen. Zugang wozu, spielt kaum eine Rolle. Unsichtbare und doch nicht weniger reale Mauern zu überwinden, wird zur Passion des mathematisch begabten Jungen. Doch das Leben in der virtuellen Welt hat einen Preis. Soziale Beziehungen erschließen sich Cassio nicht so wie anderen, er hat wenige Freunde und die üblichen Lebenswege reizen ihn nicht. Selbst der Erfolg an der Universität verschafft ihm nicht die Befriedigung, die er sucht, und der Job in einer Agentur beleidigt das Ego des ehemals im Untergrund berühmten Hackers. Erst das Angebot eines ehemaligen Konkurrenten bietet Cassio einen Ausweg aus der Misere seines Lebens. Cassio soll sein Wissen über das Netz auch auf genetische Codes anwenden, um schließlich das Leben und Verhalten von Menschen nicht nur beobachten, sondern letztlich vorhersagen und bestimmen zu können.
Obskure Konstellationen
So weit, so bekannt. Geschichten von verkannten Genies, die, unbeobachtet von der Gesellschaft, drohen, die gesamte Menschheit in Gefahr zu bringen, haben eine lange Tradition. Von Frankenstein, Dr. Moreau, Dr. Jekyll und anderen genialen Wissenschaftlern bis zu den Hackern der Gegenwart ist es dabei nur ein kleiner Schritt. Nur dass die literarische Repräsentation letzterer anscheinend sträflich hinterherhinkt. Während sich die allzu sichtbaren Monster der verrückten Wissenschaftler im 19. Jahrhundert nach wie vor in popkulturellen Medien zu vermehren scheinen, bleiben die Nerds seltsam unsichtbar. Werden sie gezeigt, geht es dann doch nur darum, ihnen eine Freundin zu verschaffen oder sie sicher in der Klapsmühle unterzubringen.
Cassios Geschichte ist anders. Nicht zuletzt, weil die parallelen Erzählebenen die (literarischen) Monster-Experimente des 19. Jahrhunderts mit dem monströsen Wissen des Hackers verbinden, sondern weil er selbst zum Agenten einer Zeit wird, die in der deutschen Übersetzung des Romantitels Kryptozän heißt. Während der Originaltitel Las Constelaciones Oscuras ambivalenter auf die dunklen Flecke der Realität Bezug nimmt, nimmt Kryptozän in Anspruch, die eigentliche prägende Macht der Menschenzeit erkannt zu haben. Während gerade das Anthropozän – die Zeit, in der Menschen zu einer geologischen Kraft werden – in aller Munde ist, wird in dieser Variante darauf hingewiesen, dass es eben nicht alle Menschen sind, die in der Lage sind, Einfluss auf unsere Zukunft zu nehmen. Wer Mensch und Tier ist, bleibt dann – so viel sei verraten – nicht mehr der Natur überlassen. Vielmehr kommt es zu monströsen Vermischungen, die einen wünschen lassen, man habe es bloß mit Frankensteins Monster und Dr. Moureaus Inselgeschöpfen zu tun.
Die Biografie des Internets
Zwischen den genialen Wissenschaftler-Abenteurern der Vergangenheit und den Hackern besteht also eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie alle vermögen das „Buch der Natur“ nicht nur zu lesen, sondern gleichsam seinen Code umzuschreiben. Als Programmierer der Gegenwart wird ihre Außenseiterposition zur Bedingung gottgleichen Handelns.
Cassios Weg hin zu seinem ultimativen Auftrag schließt die Biografie dieses Genies mit der Entwicklung des Netzes selbst kurz. Seine Erfolge und Misserfolge sind mit den Phasen der Entwicklung und der Verbreitung von Internettechnologie aufs Engste verknüpft und versehen so die Internetgeschichte endlich mit einer menschlichen Komponente. Hacker und Netz leiden, so wird klar, unter der gleichen Fehleinschätzung von außen: Denn nur, weil die ‚menschliche‘ Dimension einer Person oder Technologie übersehen, wenn nicht sogar verneint wird, ist sie nicht weniger vorhanden. Sie zu übersehen, erlaubt der Hybris, die diese menschliche Dimension allzu oft kennzeichnet, freien Lauf.
Oloixaracs Roman gelingt es, ein durchaus fesselndes Szenario zu entwerfen, ausgezeichnet ist er jedoch durch das seltsame Verhältnis zwischen Text und LeserIn. Die Herablassung ihres Protagonisten gegenüber der Welt spiegelt sich in der Herablassung des Erzählers gegenüber seinen Figuren und, letztlich, seinen LeserInnen. Damit wird das Lesen stellenweise zu einer masochistischen Übung, die Fans von Michel Houellebecq nur allzu vertraut sein dürfte. Quälend wird es dann, wenn klar wird, dass Cassio, der Text und seine Autorin einen Punkt haben: Sich freiwillig damit abzufinden, dass die „obskuren Konstellationen“ des (frei übersetzten) Originaltitels eben Teil unserer Zeit sind, ist nichts Anderes als Dummheit. Damit beantwortet man die Frage „Hacker oder Beherrschte?“, noch bevor sie überhaupt gestellt wurde. Sie zu stellen, zeichnet dieses zudem höchst ansprechend gestaltete Buch aus.
Pola Oloixarac: Kryptozän (Quartbuch)
Aus dem argentinischen Spanisch von Timo Berger
Verlag Klaus Wagenbach, 192 Seiten
Preis: 20,00€
ISBN 978-3-552-05693-0
Sehr interessante Rezension.
Das Hacker aus der Mode sind, diesen Eindruck habe ich nicht, ich habe eher das Gefühl, dass sie jetzt wieder rehabilitiert werden und den Leuten langsam klar wird, dass das Klischee des Nerds ausgedient hat. Derzeit ist zb. die TV Serie Mr. Robot zb. sehr erfolgreich. Und alle paar Jahre scheinen ein paar Hacker-Filme aufzutauchen. Aber vielleicht eignen sich auch Filme besser für das Thema als Bücher.
Aber das Thema Überwachung scheint zumindest bei Büchern beliebter zu sein als Hacking, da gibt es einige Thriller, die in diese Richtung gehen, ohne viel auf die technische Seite anzuspielen.
Und was mir auch einfällt ist Cory Doctorow: Little Brother. Ein sehr lesenswertes Jugendbuch.
Viele Grüße, Anja
Du schreibst wirklich tolle Einträge. Ich interessiere mich ebenfalls sehr für Bücher und Texte und ich habe gerade einen Blog gestartet auf dem ich regelmäßig Kurzgeschichten, Creepypasten und ähnliches poste. Es würde mich sehr freuen wenn du dir meine Texte mal ansehen könntest und wenn ich dich als neuen Leser gewinnen könnte.
Egal ob du mir folgen willst oder nicht, ich wünsche dir alles Gute mit deinem Blog und noch einen schönen Tag.
Liebe Grüße Nick.