Die Totalerschöpfung der Utopie

Andrej Platonow - Die Baugrube Cover: Suhrkamp

Andrej Platonow – Die Baugrube Cover: Suhrkamp

Anders als seine Zeitgenossen Michail Bulgakow oder Boris Pasternak, blieb Andrej Platonow als sowjetischer Schriftsteller in Deutschland bis heute weitgehend unbekannt. Insofern wurde auch seinem bekanntesten Roman Die Baugrube diese Nichtbeachtung zuteil. Dabei handelt es sich um ein literarisches Jahrhundertwerk, das einen Vergleich mit den Romanen von Kafka, Joyce und Beckett nicht zu scheuen braucht. Der Suhrkamp Verlag legte im Dezember vergangenen Jahres erstmals eine präsentable deutsche Übersetzung vor, und eines wird offensichtlich: Was Platonow mit seiner Sprache fertigbringt, ist ein Kunststück, das in der russischen Literatur bis heute seinesgleichen sucht.

von JONAS PODLECKI

Als Andrej Platonow im Mai 1931 die Erzählung Zu Nutz und Frommen in einer vielgelesenen Literaturzeitschrift veröffentlichte, brachte er damit nicht nur eine Hetzkampagne gegen sich ins Rollen, sondern provozierte das sowjetische Staatsoberhaupt höchstpersönlich zu einem Wutausbruch. Dummkopf, Schuft, Schurke soll Josef Stalin an den Rand des Textes notiert haben, was damals einem Todesurteil gleichkam. Es ist daher verwunderlich, dass Platonow, im Gegensatz zu anderen Schriftstellern wie Ossip Mandelstam, Isaak Babel oder Boris Pilnjak, den Großen Terror der 1930er Jahre überlebte, allerdings zu einem hohen künstlerischen Preis: Seine Werke durften teilweise erst Jahrzehnte nach seinem Tod 1951 publiziert werden. Sein wichtigster Roman Die Baugrube, geschrieben Anfang 1930, erschien in der Sowjetunion erstmals 1987. Zu Recht konstatiert der russische Lyriker, Essayist und Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky, dass die Unterdrückung der Baugrube die russische Literatur um fünfzig Jahre zurückgeworfen habe.

Woschtschew wird aus der Maschinenfabrik, „wo er die Mittel für seine Existenz beschaffte“, infolge einer „Kraftschwäche“ entlassen. Unterwegs in die Stadt trifft er Arbeiter, die für ein „gemeinproletarisches Haus“ eine Grube ausheben. Woschtschew schließt sich dieser heterogenen Gruppe an in der Hoffnung, endlich die Wahrheit zu finden, das heißt, etwas Sinnvolles und allgemein Nützliches, das sein Leben erfüllen könnte. Doch nach kurzer Zeit wird deutlich, dass diesem Bauprojekt kein Erfolg beschieden ist. Zum einen mangelt es an den nötigen Arbeitern, von denen einige beim Aushub sterben, zum anderen fehlt das Material, mit dem man dieses Haus errichten wollte. Die Unmöglichkeit der Organisation einer sozialistischen Zukunft verdeutlicht zudem eine längere, in die Handlung eingebettete Erzählung über die sogenannte „Entkulakisierung“: Wohlhabende Bauern (Kulaken), die in das Proletariat scheinbar nicht integrierbar sind, werden während der „Kollektivierung der Landwirtschaft“ von Arbeitern gejagt, gesammelt und auf einem Floß in die Ferne „liquidiert“. Die kommunistische Utopie ist zum Scheitern verurteilt, weil sie ihre eigenen Kinder frisst und auf den Leichnamen unschuldiger Menschen gründet.

Hans Günther - Andrej Platonow. Leben, Werk, Wirkung Cover: Suhrkamp

Hans Günther – Andrej Platonow. Leben, Werk, Wirkung Cover: Suhrkamp

Sprachgewaltige „Philosophie der Sackgasse“

Was Die Baugrube auszeichnet, ist die Sprache, die mit den bis dahin gekannten Konventionen des Russischen bricht. Darin werden, wie Hans Günther in seiner Platonow-Monografie schreibt, eine realistische und eine allegorische Darstellungsweise miteinander vermischt. Es spricht nicht einfach ein Erzähler, sondern das „Massenbewusstsein seiner Epoche“. Dadurch entsteht ein tragikomisches, absurdes, satirisch überspitztes und mit lyrisch-philosophischen Passagen durchsetztes Potpourri, das in der russischen Literatur einzigartig ist. Gekennzeichnet wird diese Schreibweise durch einen bürokratischen Nominalstil, absonderliche Abkürzungen, lange Genitivreihungen und unbeholfenen Gebrauch des politischen Jargons der anbrechenden Epoche des Sozialismus („Printziep“, „verhaftieren“, „Kolchifizierung“, „Körpertorso“, „Orghof“, etc.), also durch eine Schriftsprache, wie sie im damals entstehenden Verwaltungsapparat bis zum Erbrechen praktiziert wurde. Anschaulich gezeigt wird dies an Sätzen wie: „Hier ruht jetzt die Substanz eines Geschöpfs und die Zielorientierung der Partei – ein kleiner Mensch, dazu bestimmt, zum weltumfassenden Element zu werden! Deshalb müssen wir so plötzlich wie möglich die Baugrube beenden, damit sofort das Haus erwächst und das kindliche Personal gegen Wind und Erkältung von einer Steinmauer umgeben ist.“ Oder: „Als sie ihre Norm getrunken hatten, gingen die Pferde ins Wasser und standen darin eine Weile für ihre Sauberkeit, und dann arbeiteten sie sich hinaus ans feste Ufer und machten sich auf den Rückweg, ohne den Verband und die Geschlossenheit untereinander zu verlieren.“

Die Zerstörung der Utopie, die inhaltlich am Misserfolg des Bauvorhabens ersichtlich ist, erfolgt also auch innerhalb der Sprache. Das sozialistische Vokabular zersetzt die Sprache von innen und offenbart so die semantische Leere der kommunistischen Ideologie. Selbst der Leser bleibt von dieser „Philosophie der Sackgasse“ (Joseph Brodsky) nicht verschont. Andrzej Stasiuk schreibt dazu: „Wir erleben einfach eine mentale Vergewaltigung.“

Eine kongeniale Übersetzung – stilistisch aber nicht ideal

Zu verdanken hat der Leser dieses als unübertragbar geltende Buch der Übersetzerin Gabriele Leupold. Sie findet tatsächlich eine Sprache, die dem Original verbunden bleibt, ohne das Deutsche zu verfälschen. Perfekt ist ihre Übertragung allerdings nicht. Während sie nahezu durchgehend, trotz Verbendstellung im Nebensatz, wichtige Schlüsselbegriffe hinter das Verb setzt („Die abendliche Elektrizität war schon entzündet an den Baugerüsten, aber das Feldlicht der Stille und der welkende Duft des Schlafs waren bis hierher herangekommen aus dem allgemeinen Raum und standen unberührt in der Luft.“), gibt es einige wenige Textstellen, in denen sie diese Satzstellung unterläuft und damit sowohl den stets präsenten melancholischen Unterton als auch die Betonung entscheidender Wörter durchkreuzt: „denn man muss mit den Menschen zu leben und zu arbeiten wissen, die es auf der Welt gibt.“ Warum nicht: „denn man muss zu leben und zu arbeiten wissen mit den Menschen, die es gibt auf der Welt.“ Doch handelt es sich dabei um seltene Ausnahmen, die dem Werk insgesamt nicht schaden. Denn viel bedeutender ist, dass Leupold einen Kommentarteil, der sowohl die sprachlichen Besonderheiten dieses Romans offenbart als auch den historischen Kontext erklärt, im Anhang beigefügt hat, was den Genuss dieses Buches überhaupt erst ermöglicht.

Andrej Platonow ist ein Sprachbegründer und Visionär zugleich. Die Sprache, mit der er seine Epoche beschrieb, zersetzt ihre Ressourcen, das heißt, ihre Worte derart, wie der Kommunismus seine Versprechungen malträtierte. Platonow zeigte die Totalerschöpfung der sozialistischen Utopie und nahm damit den Niedergang der Sowjetunion vorweg zu einer Zeit, als sie die Hoffnung vieler Menschen symbolisierte – auch jene von Platonow selbst.

 

Andrej Platonow: Die Baugrube. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Suhrkamp, 240 Seiten
Preis: 24€
ISBN: 978-3518425619
 
Hans Günther: Andrej Platonow. Leben, Werk, Wirkung.
Suhrkamp, 148 Seiten
Preis: 14€
ISBN: 978-3518467374

 

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