In seinem für den Man Booker Prize nominierten Debütroman Tram 83 entwirft der in Graz lebende kongolesische Autor Fiston Mwanza Mujila ein sprachgewaltiges, modernes Sodom. Nun wurde der bereits 2014 erschienene Roman vom Französischen ins Deutsche übertragen.
von LEONARD MERKES
„Stadtland“ irgendwo im subsaharischen Afrika: ein Staat, der nur auf dem Papier existiert und geprägt ist von „drei, nein vier Befreiungskriegen“, wie sich der Erzähler ironisch korrigiert. Es ist ein äußerst fruchtbarer Flecken Erde, bedenkt man das enorme Vorkommen an Erz, Diamanten und Kobalt. Und in der „Mine der Hoffnung“, der größten und beliebtesten, ist von allem reichlich vorhanden. Ein Rebellengeneral, der dieses Gebiet kontrolliert, verteilt hier willkürlich Abbaugenehmigungen ohne Rücksicht auf moralische oder rechtliche Normen. An einem solchen Ort, der zerfressen ist von Gewalt, Korruption, Krankheit und Prostitution, lautet die Devise: „Jeder für sich und Scheiße für alle“. Dorthin treibt es Menschen jeglicher Manier und Nationalität, die aber alle dieselbe Sprache sprechen: „Geld und Sex, vor allem aber Geld“. Das Geld findet man in den Minen und den Sex im titelgebenden Tram 83: Bar, Bordell und Handelsplatz in einem, das Herzstück von Stadtland.
Hinab zur schönen neuen Welt
Vor dieser Kulisse treffen die beiden Protagonisten und „ehemals besten Freunde“, Lucien und Requiem, aufeinander, nachdem sie sich zehn Jahre nicht gesehen haben. Lucien, der Schriftsteller ist, wird in „Hinterland“, rohstoffärmeres und daher wohl etwas öderes Pendant zu Stadtland, politisch verfolgt und versucht bei Requiem, seinem Kumpel aus Studientagen, Unterschlupf zu finden. Um hier zu überleben, hat dieser die herrschende Philosophie in Stadtland nahezu perfekt verinnerlicht. Er ist ein gut vernetzter Krimineller, der seine Geschäfte im Hintergrund abwickelt, ein Mann mit vielen Namen und einer undurchsichtigen Vergangenheit als vagabundierender Soldat in den unterschiedlichsten Ländern der Welt. Lucien ist das passende Gegenstück. Mit einem allzu intakten Moralverständnis ausgestattet, weigert er sich beharrlich, die gängigen Gepflogenheiten in Stadtland anzunehmen, sehr zum Missfallen Requiems und zahlreicher Frauen. Fortan irren die beiden Figuren durch eine kaum vorhandene Handlung, gespeist aus verstreut eingeworfenen Rückblenden, die jedoch kaum ein stimmiges Bild der Figuren ergeben wollen; allzu sehr ins Karikaturhafte überzogen wirkt das Duo in seiner krassen Gegensätzlichkeit. Wie alle Bewohner Stadtlands zieht es die Geschichte mitsamt ihren beiden Protagonisten am Ende des Tages einfach nur in das Tram 83. Zusammengequetscht auf ein paar Quadratmetern drängt sich anschließend nicht nur die halbe Stadt, sondern auch ein Großteil des Geschehens. Kein Wunder, dass dabei wenig Raum für tiefschichtige Porträts verfolgter Schriftsteller und dubioser Krimineller bleibt. Hier trinkt man nämlich lieber zu schlecht interpretierten Standards von John Coltrane literweise Bier, schläft mit Prostituierten in gemischten Sanitäranlagen und isst anschließend frisch gebratenen Straßenhund, während sich die „gewinnorientierten Touristen“, etwa aus China, Europa oder den USA, in den Minen zu schaffen machen. Da hält man sich auch nicht lange mit einem Grubenunglück oder dem Tod zweier minderjähriger Prostituierter mitten im Tram auf.
Als Leser fühlt man sich buchstäblich hinabsteigen in diese grotesk wirkende „neue Welt“ namens Tram 83, getragen von einer Sprache, die sich in seitenlangen Aufzählungen ergießt und einen mit Namen, Bezeichnungen und Zuschreibungen überschüttet: hektisch und atemlos und lediglich unterbrochen von der sich ständig wiederholenden Frage: „Was sagt die Uhr?“. Es ist der standardisierte Anmachspruch im Tram, und diesen gewöhnungsbedürftigen Einschüben muss sich auch der Erzählfluss beugen, wenn etwa Beschreibungen mitten im Satz abbrechen und anschließend wieder aufgenommen werden, als wäre nichts gewesen. Es scheint, als herrschten auch erzähltechnisch im Tram 83 andere Gesetze.
Sprachliche Urgewalten
So verroht und grausam die Verhältnisse auch sein mögen, die Mujila hier schildert – die Erzählweise des Romans lässt wenig Empathie aufkommen, verfährt jedoch alles andere als nüchtern und distanziert. Die sprachliche Gestaltung entwickelt eine äußerste Lebendigkeit und Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann. Besonders augenscheinlich wird das in einer Beschreibung eines Konzerts der stadtbekannten Sängerin, schlicht „die Diva“ genannt. In stakkatohaftem Ton werden Sätze ausgestoßen und aneinandergereiht. Eine mäandernde Wortlawine überrollt den Leser, die gespickt ist mit leitmotivischen Wiederholungen, die eine kritische Distanz nicht mehr zulassen und jegliche zeitliche Ordnung einreißen: „Eine Stimme die euch zerreißt, die Zeit hat keine Bedeutung mehr, wir befanden uns im Jahr 2069 oder 1735 oder 926 oder in der Steinzeit“.
Ausgerechnet an diesem Ort soll Luciens Bühnenstück Das Afrika der Möglichkeiten inszeniert werden, welches mit einer Handvoll bedeutender Männer der jüngeren Weltgeschichte aufwartet. Nach Luciens Ansicht soll dieses der Gegend wieder ein historisches Bewusstsein für ihre nationale Identität verleihen. Bei einer Lesung wirft man ihn dann einfach kurzerhand vor die Tür. Auf Begriffe wie Identität und Nation scheint die äußerst heterogene Gästeschar geradezu allergisch zu reagieren. Sie schlägt buchstäblich zurück und verschwört sich schlussendlich sogar mit dem Erzähler, wenn „einstimmig mehrstimmig“ das Geschehen aus einer Wir-Perspektive kommentiert wird.
Kein Ort für ängstliche Leser und Poeten
Ähnlich wie Lucien ergeht es auch dem Leser, der ziemlich unsanft ins Tram gezogen wird, staunend und verwirrt um sich blickt und am Ende mit einem saftigen Fußtritt wieder hinausbefördert wird. Mühselig ist das manchmal, scheitert man mit herkömmlichen Lektürepraktiken bereits an der Tür des Trams.
Mujilas ungewöhnlicher Erzählstil scheint damit jedoch einer klaren Strategie zu folgen, denn auf diese Weise wird auch eine zentrale Darstellungsproblematik offensichtlich: Wie kann von einem durch Globalisierung und Krieg enorm zerrüttetem afrikanischen Land, das passenderweise nicht genau lokalisiert wird, überhaupt literarisch erzählt werden? Ein historischer Abriss, wie ihn Luciens littérature engagée mit seinem Afrika der Möglichkeiten verfolgt und der in seiner kritischen Distanz vielleicht weltmännisch und mitfühlend daherkommt, scheint jedoch auf dem „Schwarzmarkt der Geschichte“ seinen Zweck zu verfehlen. Dem entgegen stellt Fiston Mujila mit Tram 83 einen literarisch innovativen und äußerst belebenden Ansatz, dem es mit Bravour gelingt, das Geschehen von innen heraus ohne Sicherheitsabstand zu beleuchten.
Fiston Mwanza Mujila: Tram 83
Zsolnay Verlag, 208 Seiten
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 9783552057975