Blick in den Kopf der Kanzlerin

Man kennt sie reserviert, besonnen und neutral. Ihre Markenzeichen sind einfarbige Hosenanzüge und „die Raute“, lange hinausgezögerte Entscheidungen und interpretationsoffene Reden. Wie aber könnte es hinter dieser Fassade aussehen? Was geht der Kanzlerin durch den Kopf, während sie den Staatschefs ferner Länder die Hände schüttelt und Kindergärten besucht? Wie kam es zu ihrer Entscheidung, die Grenzen zu öffnen und zu sagen „Wir schaffen das“? Und was haben die darauffolgenden Anfeindungen mit ihr gemacht? Der Journalist und Autor Konstantin Richter wagt  in seinem Buch Die Kanzlerin. Eine Fiktion eine Antwort auf diese Fragen.

Von HANNAH SCHMIDT

Bayreuth. Sommer. Angela Merkel, die Konstantin Richter immer nur „die Kanzlerin“ nennt, sitzt im himmelblauen Zweiteiler in der Mittelloge des Festspielhauses und hört die ersten Klänge der Tristan-Interpretation unter Dirigent Christian Thielemann. Während die Oper spielt, während die Musik klingt, schweift sie jedoch mit ihren Gedanken ab, trudelt durch Erinnerungen: ihren ersten Kontakt mit der Oper Tristan und Isolde, ihre Reaktion auf das weinende Mädchen Reem Sahwil Mitte Juli in Rostock. In dieser ersten Szene zeichnet sich Richters „Leitmotiv“ – um bei der Anspielung auf Wagner zu bleiben – für seinen Roman ab: Das Verhältnis der oft als mächtigste Frau der Welt bezeichneten Kanzlerin zu ihren Emotionen.

Die kühle Merkel trifft auf den heißen Wagner

Richter bewegt sich dabei an tatsächlichen Ereignissen und Schlagzeilen entlang, er erzählt sie lediglich aus Sicht der „Kanzlerin“. Dass er die Rahmenhandlung dessen, was zwischen August 2015 und August 2016 passiert ist, dafür in das Bayreuther Festspielhaus verlegt – in den ersten Tristan-Akt im Jahr 2015 zu Beginn, und in den Schluss der Oper im Jahr 2016 am Ende –, ist ein gelungener Kunstgriff: „Das ist ja dermaßen überkandidelt. Muss das wirklich so intensiv sein?“, lässt der Autor die „Kanzlerin“ zu Beginn seiner Erzählung über wagnerisch emotionalisierte Szenen denken, lässt sie in der Hitze des Sommers, der Hitze der Emotionen schwitzen und schwindeln und in der Folge schließlich in der Pause kollabieren (die später offiziell gewordene Version, ein Stuhl sei unter ihr zerbrochen, wird bei Richter zur Ausrede). Richard Wagners Musik ist das Extrem der Emotionalität, Angela Merkel zu Beginn des Buches das genaue Gegenteil.

Die gedankliche und emotionale Reise, die die „Kanzlerin“ in Richters Roman in der Zeit zwischen den beiden Festspielen macht, ist eine Reise in ihr Inneres. Sie beschreibt und hinterfragt ihre Wesensart, ihre Art zu denken und an Dinge und Entscheidungen heranzugehen, und schließlich, wie sie sie gar, mit ihrem Entschluss, die Grenzen für Flüchtende zu öffnen, bricht. Damit macht sie sich sowohl im Roman als auch in der Realität zum ersten Mal während ihrer über zehnjährigen Kanzlerschaft wirklich angreifbar – und gerät ins Straucheln, wird angefeindet, kommt, nachdem sie sich vorsichtig an so etwas wie positive Gefühligkeit herangetastet hat, in Kontakt mit dem blanken Hass Transparente schwenkender und Parolen brüllender „Merkel-Gegner“.

Manche Beobachtungen sind entlarvend

Tatsächlich ist Richters Roman aber weniger ein Drama als eher eine Tragikomödie, voller scharfer und guter Beobachtungen. Manche Wendungen sind so ironisch-absurd wie komisch, manche Feststellungen entlarvend und Zusammenhänge mitunter grotesk konstruiert. So wünscht sich die „Kanzlerin“ beispielsweise, ein längerfristiges „Projekt“ vom Kanzleramt aus auf die Beine zu bringen: Sie möchte einen jungen Geflüchteten fördern, anonym, und schauen, wie er „sich macht“. Der Mann, den der junge Social Media Analyst, den die „Kanzlerin“ ob seiner Unbekanntheit mit der Suche nach einem Geeigneten beauftragt hat, schließlich aussucht, ist ein hochgebildeter Syrer, der seit acht Monaten in Deutschland lebt, fließend Deutsch spricht, die Klassiker verschlingt und einen Roman schreiben möchte. Bei Richter wird dieser Mahmoud am Ende zu demjenigen, der in der Silvesternacht von 2015 auf 2016 zu einem Polizisten sagt: „Ich bin Syrer. Ihr müsst mich freundlich behandeln. Frau Merkel hat mich eingeladen.“

Die „Kanzlerin“ spricht in Gedanken von ihrem Gatten immer nur von „Sauer“, dieser nennt sie „Frau Bundeskanzlerin“, und auch, wenn es um Kindheitserinnerungen geht, ist die „Kanzlerin“ die „Kanzlerin“: So steht kein achtjähriges Mädchen auf dem Drei-Meter-Brett und traut sich nicht zu springen, sondern die „Kanzlerin“ traut sich nicht. Richter schafft auf diese Weise eine interessante paradoxe Distanz zu der Protagonistin, die das ganze Buch über weitaus mehr ist, als nur die „Kanzlerin“ – nämlich eine Frau, die in einem für sie schweren Jahr ihren Sinn für Dinge wie Glück, Muße und Schönheit neu entdeckt. So kann sie ein Jahr später in Bayreuth, diesmal im fliederfarbenen Kostüm, bei „gemäßigten, […] angenehmen“ Temperaturen, „bloß zuhören und fühlen“. Der Roman eröffnet eine interessante Lesart und eine gelungene Interpretation all dessen, was Bürger dieses Landes und anderer Länder nur aus der Ferne über die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland erfahren. Auch wenn alles nur „eine Fiktion“ ist, bleibt nach der Lektüre doch der Gedanke, vielleicht gar der Wunsch nach einem eventuellen kleinen Wahrheitsgehalt des Erzählten zurück – denn der Roman schenkt der oft verschlossen und verkopft wirkenden Kanzlerin eine zweite Seite, auf die sie, wie jeder Mensch und jede Theater- und Romanfigur ein Recht hat. Die Lektüre von Richters Roman ist nicht nur amüsant sondern auch erhellend: Man sieht die Kanzlerin nach Richters Roman, egal ob zu Recht oder nicht, mit etwas anderen Augen.

Konstantin Richter: Die Kanzlerin. Eine Fiktion
Kein & Aber, 173 Seiten
Preis: 20 Euro
ISBN: 978-3-0369-5755-5

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