Sevgi Soysals Erzählband Tante Rosa von 1968 über eine exzentrische und anachronistisch selbstbestimmte Frau im Süden Nachkriegsdeutschlands ist in einer Neuübersetzung und –auflage im Binooki-Verlag erschienen. Ein Text der zeigt, dass auch weibliche Figuren Material für eine Ein-Mann-Show hergeben.
Von CAROLIN KAISER
Dass das Leben nicht immer so verläuft, wie man es sich als Kind vorstellt, sollte jedem bekannt sein, der früher in einem Pappkarton zum Mond geflogen ist und dreißig Jahre später an einem mit Papier überquellenden Schreibtisch gelandet ist. In dem Erzählband Tante Rosa der Deutsch-Türkin Sevgi Soysal, erschienen im kulturellen Wendejahr 1968, ist es nicht das Astronautenleben, das die titelgebende Heldin – von der der Leser nie erfährt, warum sie denn nun Tante Rosa genannt wird – als kleines Mädchen fasziniert, sondern das einer Zirkusreiterin. Natürlich, irgendwas mit Pferden. Dabei wird sie inspiriert durch die junge Königin Viktoria im Reiterkostüm, deren Foto abgedruckt ist im allgegenwärtigen Hausfrauenmagazin Unter Uns. Natürlich, irgendwas mit Prinzessinnen. Nachdem sie den Tod einer Zirkusreiterin mit ansieht, die entgegen Rosas Kleinmädchenfantasien nicht von ihrem im Publikum sitzenden Prinz Charming gerettet, sondern stattdessen von ihrem Pferd totgetrampelt wird, entscheidet Rosa für sich, dass Zirkusreiterinnen gar nichts mit der androgynen Königin Viktoria im Reiterkostüm gemeinsam haben und, dass das eigentlich doch kein Job für sie sei.
Was soll das heißen, „bis der Tod uns scheidet“?
Nach einem kurzen Aufenthalt im Mädchenkloster, wird Rosa jung und ungewollt vom Nachbarsjungen schwanger. In der bayrischen Provinz Ende der 1940er Jahre bedeutet Schwangersein natürlich sofort Heirat und so kommt Tante Rosa zu ihrem ersten von zahlreichen Ehemännern. Drei Kinder später lässt Rosa ihre Kirchenmitgliedschaft, besagte Kinder, ihren Ehemann und seine sonntäglichen Vergewaltigungen zurück und zieht in die Stadt. Von da an hangelt sich Tante Rosa von einem Job zum nächsten. Manchmal in Eigenregie als Kioskbesitzerin, Grabpflegerin oder Pensionsleiterin, manchmal als Angestellte im Café oder Bordell. Alles ohne den erhofften Erfolg, für den Leser aber durchaus unterhaltsam.
„Nicht Rosa, sondern Frau Großherzogin zurzeit demissioniert“
Richtig nahe kommt man Tante Rosa bei diesem Querschnitt durch ihr Leben allerdings nicht. Die Kapitel sind episodenhaft, geben lediglich kurze Einblicke in einen bestimmten Lebensabschnitt. Wie viel Zeit zwischen den einzelnen Kapiteln vergeht, lässt sich meist nur raten, genauso wie Rosas Alter. Überhaupt bleibt vieles schemenhaft in diesem Erzählband: Rosas Kinder haben weder Namen noch Persönlichkeit, der Schreibstil ist stellenweise verkopft (wer eine leichte und amüsante Lektüre erwartet, wird das Buch schnell weglegen), einen erkennbaren Erzählstrang gibt es nicht und auch die Anzahl ihrer Ehemänner und die Dauer der jeweiligen Ehe lässt sich nicht mit völliger Sicherheit bestimmen. Dass nur die wenigsten der ohnehin spärlich gesäten Nebenfiguren einen Namen haben, macht es nicht einfacher, einen Überblick über Rosas Sozialleben zu bekommen.
Allerdings ist dieses im späteren Abschnitt von Tante Rosas Leben auch nicht allzu ausgeprägt. Rosa ist durch ihr bizarres Verhalten isoliert. Sie verschickt Postkarten mit der Adressierung „An die alleroberste Stuttgarter Hure“ an ihre Tochter (kein Wunder, dass die Kinder keine Lust haben, sich um die senile Mutter zu kümmern), verprasst den ganzen Lottogewinn ihres sie noch immer liebenden Ex-Mannes und wünscht sich von Stalin ein Siamkatzenpaar („Diese Katzen lassen sich hier sehr teuer verkaufen“). Noch immer versucht sie irgendwie, eine Erfolgsgeschichte aus ihrem Leben zu machen und, wenn es nur bedeutet, vom Großherzog zu träumen, der sie aus ihrem tristen Leben rettet.
Sind das noch Kleinmädchenfantasien oder ist das schon Feminismus?
Überhaupt ist Tante Rosa eine ambivalente Figur. Auf der einen Seite die taffe, moderne Frau, die keinen Mann braucht, um ihr zu sagen, wo es langgeht; auf der anderen Seite, die Madam-Bovary-hafte Leserin von seichten Liebesromanen, in denen die armen Mädchen doch Prinzessinnen sind und von Traumprinzen zurück in den adligen Wohlstand getragen werden. Heutige FeministInnen werden da die Nase rümpfen.
Aber vielleicht ist Tante Rosa auch weniger eine Geschichte übers Frausein, als über das Älterwerden. Die Isolation, die Wirrheit im Kopf, Altersarmut – unter diesen Aspekten stellt sich Tante Rosa als immer noch gesellschaftlich relevante Geschichte heraus. 1968 mag der Rezeptionsfokus auf Rosas Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit als Frau gelegen haben, für unsere heutige, immer älterwerdende Gesellschaft ist aber Tante Rosa als alte, verarmte und geistig verwirrte Frau die aktuellere und ergiebigere Lesart. Empfehlen lässt sich das Buch im Grunde nur Leuten, die ein bisschen Futter für ihren Kopf suchen. Denn trotz seines knappen Umfangs von knapp 80 Seiten eignet sich Tante Rosa nicht zur Klolektüre. Dafür muss man sich zu sehr konzentrieren, um Tante Rosas bizarrem Leben und noch bizarreren Gedankengängen zu folgen.
Sevgi Soysal: Tante Rosa
Binooki-Verlag, 78 Seiten
Preis: 14,80€
ISBN: 978-3-943562-57-6