Die fantastisch klingende, aber auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte Ludovica Fernandes’, einer Frau, die sich kurz vor Beginn der Unabhängigkeit Angolas für gut 30 Jahre in ihrer Wohnung verschanzt, dient dem angolanischen Autor José Eduardo Agualusa als Inspirationsquelle für ein Porträt seines Heimatlandes.
von LEONARD MERKES
Öffnet man das Buch, so befinden sich auf den Innenseiten des Einbandes zwei schön gestaltete Landkarten: Erst Angola, dann Portugal. Blättert man vor bzw. zurück: exakte Quellenangaben, Orts- und Namensverzeichnis, schließlich eine Vorbemerkung: „Ludos Tagebücher, Gedichte und Gedanken erlaubten mir, ihr Drama nachzuempfinden[…] Doch ist das, was Sie lesen werden, Fiktion“. Der mediale Rahmen des Romans deutet gleichsam auf das Spannungsfeld hin, in dem sich die in viele kleine Episoden zerstückelte Handlung bewegt. Dreh- und Angelpunkt des Romans ist nämlich das faszinierende Schicksal der Exilportugiesin Ludo, welches schon so fiktiv scheint, dass man es sich wohl nicht besser hätte ausdenken können. Dazwischen tummeln sich nicht minder abenteuerlich klingende, aber fiktive Lebensläufe unterschiedlichster Menschen, wie eingenäht in die Wirren der Unabhängigkeit Angolas von Portugal und dem anschließenden blutigen Bürgerkrieg.
Da ist etwa Ludovicas Nachbar, kleiner Soba genannt, früher Revoluzzer und dann Großkapitalist, dessen bewegtes Leben quasi en passant die politische und ökonomische Wandlung Angolas erzählt. Von kommunistischen Zukunftsträumen nach der Vertreibung der portugiesischen Kolonialmacht über mehr oder weniger sozialistischen Zustände bis zum Einzug eines „Raubtierkapitalismus“ mit Korruption und Vertreibung der autonom lebenden indigenen Bevölkerung. Geschickt webt der auktoriale, stets in Rückblenden berichtende Erzähler diverse Biografien in die Vergangenheit Angolas ein.
Schließlich laufen die unterschiedlichen Handlungsstränge allesamt in der kleinen Wohnung der Protagonistin zusammen. Das engmaschige Netz aus Historie und menschlichen Schicksal, findet dabei im doppelten Exil der Portugiesin seinen Knotenpunkt.
Eine Robinsonade im Herzen Angolas
„Schon als Kind hatten sie schreckliche Ängste vor offenen Räumen geplagt. Außerhalb ihrer Wohnung fühlte sie sich verletzlich und ausgesetzt wie eine Schildkröte, der man den Panzer geraubt hatte“. Ludovica leidet unter Agoraphobie, der Angst vor offenen Räumen, ist eine notorische Einzelgängerin, die sich nach dem spurlosen Verschwinden ihrer Schwester und ihres Schwagers in den Wirren der Unabhängigkeit, konsequenterweise in der gemeinsamen Wohnung, einmauert und dort für gut 30 Jahre unerkannt weiterlebt, bis man sie schließlich 2002 – exakt zum Ende des vernichtenden Bürgerkriegs – entdeckt.
Ludovicas Geschichte ähnelt einer Robinsonade unter umgekehrten Vorzeichen, denn in ihrem alltäglichen Überlebenskampf muss sie ihre Bücher, Schallplatten und Möbel verbrennen. Das Radio als letzte Verbindung zur Außenwelt ist schon lange ausgefallen. Sie lebt auf einer Insel, der zunehmend die Früchte und bunten Pflanzen abhandenkommen, bis nur noch ein schroffes Stück Felsen übrig ist: „Ich spare an Essen, an Wasser, an Feuer und an Adjektiven“.
Poetisch, dicht und intensiv ist das Bild, das man von der Protagonistin erhält. In versatzstückartig angeordneten Texteinheiten, die sich aus eigenen Aufzeichnungen, Beschreibungen des Erzählers und Lyrik einer brasilianischen Dichterin speisen, verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktionalem und Realem. In das OFF des Geschehens der jüngeren Geschichte Angolas wird die Protagonistin zu einem Geist. Über sie erhält man die Perspektive einer Außenseiterin, einer Vergessenen.
„Hätte ich noch Platz, Kohle und freie Wände“
In der Einsamkeit beginnt Ludo zu schreiben, erst in Hefte und Tagebücher schließlich an die Wände. Mit der extremen Beschränkung und Reduzierung wird jedoch auch ein kreativer Prozess in Gang gesetzt, der fortan das bestimmende Element des Romans bildet, so heißt es in einer ihrer Aufzeichnungen: „Mir wird bewusst, dass ich meine Wohnung zu einem riesigen Buch gemacht habe“.
Im Kontext des Romans liest sich Ludovicas Schicksal ebenso als Motor für die eigene kreative Auseinandersetzung des Autors mit der Geschichte seines Landes, indem er das Abdriften der Protagonistin ins Vergessen mit eigenen fiktiven Viten kontrastiert. Es ist ein kluges wie berührendes poetisches Konzept, das der Autor aus dem realen Schicksal der Hauptfigur gewinnt, dem es dann aber leider in der Umsetzung hapert.
Nachdem die „Funktion“ der Protagonistin deutlich geworden ist, sind die Passagen über Ludovica immer rarer gesät. Stattdessen konzentriert sich Agualusa auf die immer größer werdende Anzahl an Handlungssträngen, die er nur mit Mühe verknüpfen kann, was allzu konstruiert erscheint und eher zu Unübersichtlichkeit führt. Der etwas altklug wirkende Erzähler, der auch vor etwas peinlichen Vergleichen („sie schlug ihre atemberaubenden Beine übereinander, wie Sharon Stone in basic instinct“) nicht zurückschreckt, erzählt in einem Ton, der mehr an einen Creative Writing-Kurs erinnert. Zu glatt laufen die Schicksale ineinander, wechseln poetische mit sachlich nüchternen Worten.
Dabei hätten etwa Ludovicas authentische und kraftvolle Reflexionen über Sprache und Literatur, Einsamkeit und Freiheit Stoff für eine intensivere Beschäftigung geboten. So schöpft der außergewöhnlich beginnende Roman mit seinem äußerst spannenden Ansatz sein Potential leider nicht aus. Ein bisschen mehr Ludo hätte ihm gut getan.
José Eduardo Agualusa: Eine allgemeine Theorie des Vergessens
C.H:Beck, 197 Seiten
Preis: 19,95 €
ISBN: 9783406713408