Marxismus, Darwinismus und Religion – wie passt das zusammen? Dass die beiden Persönlichkeiten Karl Marx und Charles Darwin mehr verband als ihre Bärte und der schlechte Gesundheitszustand, zeigt Ilona Jerger in ihrem Roman Und Marx stand still in Darwins Garten. Dabei kommen philosophische Diskurse nicht zu kurz.
von ALINA WOLSKI
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei London: Charles Darwin und Karl Marx leben etwa zwei Meilen voneinander entfernt. Persönlich sollen sich die beiden Berühmtheiten nie begegnet sein. Doch Jerger greift in ihrem Roman auf einen Joker zurück: Den von ihr erfundenen Doktor Beckett setzt sie als Bindeglied zwischen den Protagonisten an. Dazu macht sie sich Marx’ und Darwins kränkelnde Zustände zunutze. Die Autorin benutzt Doktor Beckett nicht nur – sie erschafft seine Lebensgeschichte und ihn als Menschen. Das gelingt ihr auf brillante Weise. Im Roman, der durch Details belebt wird, sind eben diese so gut ausgeklügelt, dass einem unerfahrenen Leser nicht einfallen würde, zu behaupten, dass der Arzt lediglich aus Gedanken und Worten der Autorin geschaffen wurde. Zusätzlich vereint Doktor Beckett die großen Themen des Buches: Religionskritik, die Suche nach dem Lebensziel, Neugierde und das Bewusstsein über die Schönheit der Schöpfung.
Als noch junger Arzt erzählt Beckett seinen sterbenden Patienten davon, dass sie nicht mehr als ein Zufall der Evolution sind, um ihnen die Angst vor dem Tod zu nehmen. Doch die Resonanz ist eine andere – die Sterbenden berufen sich gerade in ihren letzten Augenblicken auf Gott. Becketts Atheismus ist schließlich die Ursache, weshalb er das Krankenhaus verlassen muss und Privatarzt wird. Solche Details nähren Und Marx stand still in Darwins Garten. Sie machen die Geschichte authentischer, wenn auch nicht wahrer.
Bei ihrer Recherche vor dem Schreiben des Werkes hat die Autorin sich durch Notizbücher und mehrere tausend Briefe Darwins gearbeitet, um ein Buch darüber zu verfassen, „wie es hätte sein können“. Dass sie dabei auf das Produkt ihrer Fantasie zurückgreift und so neben Gesprächen auch ganze Figuren dazu erfindet, verschweigt sie nicht. Dem Romantext hängt sie eine mehrseitige Abhandlung zum Realitätsbezug an.
Versklavte Bücher und Gespräche mit Regenwürmern
Doktor Beckett nimmt nicht nur die Rolle des Bindeglieds zwischen Darwin und Marx ein, sondern ebenfalls die des Urteilenden. Er kennt Charles Darwin seit Jahrzehnten. Durch lange Gespräche über den Atheismus, Diskussionen bezüglich Darwins aktuellen Forschungsthemen (manchmal findet der Arzt sogar einen Fehler in den Rechnungen und Überlegungen des Wissenschaftlers) sowie gelegentliche Billardspiele freundet er sich immer mehr mit dem alten Mann an. Er beginnt, die Marotten seines Patienten zu schätzen: Darwin redet gleichermaßen mit seiner Hündin Polly wie auch mit den Regenwürmern und Pflanzen, die er erforscht.
Marx hingegen ist sein neuer Patient. Beim ersten Hausbesuch fällt ihm auf, „dass dieser Gelehrte seine Bücher wie Sklaven hielt“. Unter diesen Sklaven befindet sich ein bekanntes Werk von Becketts Patient und Freund: Über die Entstehung der Arten mit persönlicher Widmung. Es ist dieses Buch, das die Wissenschaftler auch in der Realität miteinander verband. Mit Notizen und Markierungen bestückt, lagert es neben den Bücherhaufen im Arbeitszimmer des Philosophen. Doch es ist nicht nur der große Bücherkonsum, der Marx an Cervantes’ großen Helden erinnern lässt. Die Analogie fällt auch Doktor Beckett direkt auf: „Heute sind es zwar nicht mehr die Windmühlen, sondern die vom Dampf getriebenen Räder des Kapitalismus, gegen Sie…“
Die Sache mit dem Atheismus
Stilistisch ist Und Marx stand still in Darwins Garten keine poetische Innovation. Der Sprachduktus ist angepasst an den einfühlsamen, teils heiteren Erzählstil der Autorin. So lässt sich ihr Werk sehr flüssig lesen, auch wenn sich die Ausführungen an einigen Stellen zu ziehen scheinen. Ab und zu blitzen jedoch literarische Kunstwerke aus dem 288-seitigen Buchstabenwald heraus: „Marx saß im Sessel wie ein geschlagener Hund. Und doch war Doktor Beckett darauf gefasst, dass er sich jederzeit wiederaufrichtete, bellte und sich in den nächsten Sachverhalt biss.“ Obwohl diese Sprache nur selten anzutreffen ist, ist der Roman lesenswert und erweckt Neugier durch die liebevoll erzählten Details und die vielen Informationen zu Darwins Forschungsgegenständen, die Berichte zu seiner Weltreise sowie zum Zusammenleben mit seiner Frau Emma. Beim Aufrechterhalten dieses Spannungsbogens spielt das Fiktionale keine unerhebliche Rolle.
Der Höhepunkt des Romangeschehens spiegelt sich im Aufeinandertreffen der Wissenschaftler im Hause Darwins wider, welches in der Realität nie stattgefunden hat. Bestimmendes Gesprächsthema ist der Atheismus. So behauptet Marx, „Darwins Naturwissenschaft hat Gott getötet. Marx’ Gesellschaftswissenschaft hat den Kapitalismus getötet.“ Darwin ist da anderer Meinung – eine lange, philosophische Diskussion wird ausgeführt. Diese ist auch gerade aus heutiger Sicht bereichernd. Denn sie übersteigt die Tatsache, dass die Evolutionstheorie die biblische Schöpfungsgeschichte ersetzt. Die Autorin verzichtet auf klassische Denkmuster und lässt den Naturwissenschaftler sehr innovativ und fortschrittlich argumentieren. Die gesamte Situation steigert sich im Handlungsverlauf so weit, dass ein Atheist bei Darwins Begräbnis in der Westminster Abbey laut ruft: „Gott ist tot! Hoch lebe Darwin!“
Jergers Roman polarisiert so sehr, dass der Leser einschreiten und widersprechen möchte: Das ist nicht das, was Darwin gewollt hat. Darwin war ein Naturforscher. Er wollte Gott nicht abschaffen. Gleichzeitig steht der Leser am Grab Darwins und trauert seiner scharfen Beobachtungsgabe, den regelmäßigen Schwächeanfällen bei den Spaziergängen im Garten sowie seinem englischen Humor hinterher. Die Details machen Und Marx stand still in Darwins Garten zu etwas Besonderem. Jede Kleinigkeit bleibt dem Leser in Erinnerung. Jede auch noch so stark verblasste Erinnerung an ein Familienmitglied Darwins oder Marx’ stellt ein Puzzlestück zu einem ausgeklügelten Charaktar dar. Jeder Charakter belebt den Roman und macht ihn zu dem, was er ist: eine Geschichte darüber, wie es hätte sein können.
Danke für die Rezension!
Mich hat sich nun insbesondere dieser Absatz nicht völlig erschlossen:
“Als noch junger Arzt erzählt Beckett seinen sterbenden Patienten davon, dass sie nicht mehr als ein Zufall der Evolution sind, um ihnen die Angst vor dem Tod zu nehmen. Doch die Resonanz ist eine andere – die Sterbenden berufen sich gerade in ihren letzten Augenblicken auf Gott. Becketts Atheismus ist schließlich die Ursache, weshalb er das Krankenhaus verlassen muss und Privatarzt wird. Solche Details nähren Und Marx stand still in Darwins Garten. Sie machen die Geschichte authentischer, wenn auch nicht wahrer.”
Der (erfundene) atheistische Arzt verhält sich wie ein alter, besonders gerne von christlichen Apologeten benutzten Strohmann, und seine Patienten reagieren darauf, indem sie sich in ihren letzten Augenblicken auf Gott berufen (wie Atheisten das in den Geschichten solcher Apologeten immer gerne machen). Das alles ist komplett erfunden (denn Beckett ist es sowieso, und auch eine Besinnung auf Gott ist meines Wissens von keinem der beiden belegt) und außerdem ein sehr abgenutztes und zumindest aus meiner Perspektive auch ziemlich ärgerliches Klischee.
Nun muss man das nicht so empfinden wie ich.
Aber ich frag mich doch, inwiefern die Geschichte durch sowas authentischer wird.
Magst du das erklären?
Vielen Dank für das Lesen meiner Rezension und den Kommentar.
Mit den Patienten im Krankenhaus sind nicht Darwin und Marx gemeint, sondern beliebige, nicht weiter konkretisierte Personen. Erst nachdem Doktor Beckett dort nicht mehr arbeiten darf, wird er Privatarzt und behandelt erst Darwin und später zusätzlich auch Marx.
Mit der Authentizität war meinerseits vielmehr die Tatsache gemeint, dass die Biographien der einzelnen (eben auch der fiktiven) Personen detailreich geschildert werden, sodass sich ein vollständiges Gesamtbild zusammensetzt und eben nicht der Wahrheitsgehalt des Romans. Denn wie ich schon in der Rezension geschrieben hatte: “Sie machen die Geschichte authentischer, wenn auch nicht wahrer.”
Alina Wolski
Ah, okay. Ich würde nicht so weit gehen mich anzuschließen, aber ich ahne, was gemeint ist.
Danke!