Erschütternder Wandel einer Persönlichkeit durch den Einfluss von Manipulation

John Boyne - Der Junge auf dem Berg Cover: Fischer

John Boyne – Der Junge auf dem Berg Cover: Fischer

Mit Der Junge auf dem Berg hat John Boyne nach Der Junge im gestreiften Pyjama (2006) einen weiteren Jugendroman geschrieben, der sich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust beschäftigt. Das Buch handelt von dem Jungen Pierrot, der in Paris aufgewachsen ist und nach dem Tod seiner Eltern auf den Berghof, die Sommerresidenz Adolf Hitlers, zu seiner dort arbeitenden Tante Beatrix kommt. Aus dem kleinen französischen Jungen Pierrot, dessen bester Freund der Jude Anshel war, wird hier der deutsche Peter, der stolzes Mitglied der Hitlerjugend wird.

von ANNA LENA KNIEPER

Die Geschichte beginnt im Jahr 1936. Pierrot lebt mit seiner französischen Mutter in einer kleinen Wohnung in Paris, sein deutscher Vater ist tot; der erste Weltkrieg habe ihn umgebracht, wie Pierrots Mutter immer sagt, auch wenn er nicht im Krieg gestorben ist, sondern an dessen psychischen Folgen. Im gleichen Haus wie Pierrot wohnt auch sein bester Freund Anshel gemeinsam mit seiner Mutter. Anshel ist taub und liebt es, Geschichten zu schreiben, die er dann Pierrot zum Lesen gibt. Die beiden sind wie Brüder, haben eine gemeinsame Gebärdensprache zur Verständigung entwickelt und der Umstand, dass Anshel Jude ist, ist für Pierrot noch völlig unbedeutend.

Die Situation ändert sich mit dem Tod von Pierrots Mutter. Er muss Paris verlassen und wird zu seiner Tante Beatrix, der Schwester seines Vaters, geschickt. Diese arbeitet als Hauswirtschafterin auf dem Berghof, der Sommerresidenz Adolf Hitlers. Pierrot, von allen jetzt Peter genannt, um seine französische Herkunft zu verschleiern, ist fasziniert von dem Mann, der sich ihm bei seinen Besuchen als weichherziger Hundeliebhaber präsentiert. Der Junge ist beeindruckt von diesem Mann, unterstützt ihn vorbehaltlos und will ihn auf sich stolz machen. Die Freundschaft zu Anshel bricht ab. Der Roman zeigt, wie erschreckend einfach es sein kann, einen Menschen so zu beeinflussen, dass sein früheres Selbst kaum mehr zu erkennen ist.

Erschreckende Botschaft mit naiver Sprache

John Boyne gelingt es, mit seiner Sprache einen naiven Grundton zu treffen, der die kindliche Unwissenheit über die Geschehnisse zeigt und den wissenden Leser die Hintergründe erkennen lässt. Vom Verlag wird das Buch mit einer Altersempfehlung ab 12 Jahren ausgegeben, und diese ist auch so gerechtfertigt. Die Geschichte ist leicht verständlich zu lesen, erfordert aber ein gewisses Vorwissen über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, da ansonsten wichtige Punkte kaum zu verstehen sind. Die Botschaft, die Boyne mit seinem Buch vermittelt, wie leicht es sein kann, eine Person so umfassend und vollständig zu verändern und zu manipulieren, macht das Werk aber nicht nur zu einem Buch für Jugendliche, sondern zu einem Roman für alle Altersgruppen. Er zeigt die historischen Verhältnisse auf und warnt gleichzeitig davor, dass ein jeder dieser Art Manipulationen zum Opfer fallen kann.

Mischung aus Fiktion und Realität

Dem Roman vorangesetzt ist der Vermerk, dass er auf historischen Tatsachen basiert. Die genannten historischen Persönlichkeiten seien tatsächlich bei Hitler auf dem Berghof gewesen, andere Figuren und Ereignisse sowie die Gesprächsverläufe jedoch frei erfunden. Eva Braun ist häufig Gast auf dem Berghof, und es kommt zu einem Treffen zwischen Hitler, Heinrich Himmler und weiteren Männern, bei dem sich diese über den Bau des Vernichtungslagers Auschwitz beratschlagen. Pierrot „darf“ bei diesem Treffen Protokoll führen. Sowohl auf dem Obersalzberg als auch in der Stadt wird Pierrot von Beginn seines Aufenthalts an immer wieder mit den Vorgängen gegen Juden konfrontiert. Am Anfang versteht er noch nicht, warum er nicht mehr offen Kontakt zu seinem Freund Anshel haben darf, doch nach einigen Jahren vernichtet er einen Brief, auf den er nicht mehr geantwortet hat, einfach im Feuer, weil der „Führer“ sonst „böse auf ihn“ werden könnte: „Früher hatte er Anshel gemocht, natürlich war das so, aber damals waren sie Kinder gewesen, und er hatte nicht verstanden, was es bedeutete, mit einem Juden befreundet zu sein.“ Menschen, die aus der Stadt verschwinden, waren eben Juden, erklärt Pierrot, der nun wirklich zu Peter geworden ist, also sei das alles gerechtfertigt. Während er Anshel zu Anfang noch schreibt, dass sie „nicht zulassen [dürften], dass [ihre] Briefe dem Feind in die Hände fallen[…]“  ist er inzwischen zu einem Mitglied der Hitlerjugend geworden, einem Scharführer, der mit Stolz seine Uniform trägt.

Boyne gelingt es, mit Pierrot/ Peter einen ambivalenten Charakter zu schaffen. Dass er sich zu einem völlig anderen Menschen entwickelt, dem man beim Lesen gänzlich andere Gefühle entgegenbringt, wird auch durch die Veränderung des Namens hervorgehoben. Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto mehr identifiziert sich Pierrot mit seinem Leben als Peter und auch der Erzähler spricht nun nicht mehr als Pierrot von ihm. Der naive Grundton des Buches unterstützt die Wirkung und betont sowohl Pierrots kindliche Wissbegier zu Beginn als auch seinen späteren blinden Gehorsam. Die historischen Begebenheiten lassen sich durch die kindliche Perspektive aus einem anderen Blickwinkel betrachten und besonders die Botschaft, wie einfach und schnell Manipulation vonstattengehen kann, ist besonders im Kontext der momentanen politischen Geschehnisse ein aktuelles Thema. Ähnlich wie sein Vorgänger Der Junge im gestreiften Pyjama, ist auch Der Junge auf dem Berg ein Jugendbuch, das definitiv nicht nur für Jugendliche geeignet ist.

 

John Boyne: Der Junge auf dem Berg
Fischer, 304 Seiten
Preis: 16,99€
ISBN: 978-3-7373-4062-5

 

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