Doris Anselms Kurzgeschichtenband und in dem Moment holt meine Liebe zum Gegenschlag aus erzählt von jenen Momenten, die das Leben entscheidend verändern. Die Autorin schildert diese gezielt und lässt dabei weder Kinder, noch Businessmen oder Hausfrauen aus: Unterschiedlichste Personen treten nacheinander in den Mittelpunkt, werden dem Leser jedoch nicht nahegebracht, sondern verwundern zunächst und lassen ihn einen Großteil der Figuren negativ und realitätsfremd wahrnehmen. Ein Kurzgeschichtenband, der die Stimmung eines verregneten Herbsttages heraufbeschwört, trostlos und negativ.
von VIVIANE SCHWERTFEGER
Ein Ereignis, ein Aufeinandertreffen, eine Entscheidung und schon werden aus Bekannten Freunde oder Freundschaften enden abrupt. Beziehungen zerbrechen, verändern sich und dabei auch die Beteiligten. In sechzehn Kurzgeschichten werden die einschneidenden Erlebnisse aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Es geht dabei um Familien und Individuen, Arbeit und Privates, sowie allerlei dazwischen. Es fehlen zumeist Vorgeschichte und Folgen, die sich für die Beteiligten ergeben. Eines wird in den Erzählungen deutlich: Menschliche Beziehungen sind kompliziert und es gibt immer einen Auslöser für Veränderungen. Beispiele für diese Situationen bilden Mobbing, das fast an Mord grenzt, ein Selbstmord in der Öffentlichkeit sowie diverse Mordversuche, durchgeführt von Kindern und Erwachsenen. Viele Momente der Veränderung erscheinen somit brutal und unmenschlich, verstörend und merkwürdig. Der Tod als Motiv wird in fast jeder Erzählung aufgegriffen – eine Tatsache, die unangenehm sein kann. Da der Tod anderen Themen gegenüber, wie beispielsweise der Liebe oder der Familie, übergeordnet erscheint, wirken die Erzählungen erdrückend. Selbst eine junge Frau, die eine überschwängliche Liebe zu einem ausländischen Kioskverkäufer in den Fünfzigern hegt, wirkt realitätsfremd. Das Ende der Geschichte, hemmungsloser Sex im Kiosk, erscheint befremdlich. Obwohl die Liebe etwas Positives ist, ist der Leseeindruck auch hier nicht positiv, sondern eher von verwundertem Missfallen. Die Personen treten ganz unterschiedlich auf und in Aktion. So wirken sie mal gefühlskalt, da die Reue ausbleibt, oder aber sie zeigen starke Gefühle. Manchmal kommt es regelrecht zu einem Gefühlausbruch. So schildert Anselm Überreaktionen, ein wutentbranntes Toben oder eine überschwängliche Liebesbekundung, aber auch die Belästigung einer jungen Frau in der Bahn, bei der niemand eingreift. Es entwickelt sich das Gefühl, dass ausschließlich die negativen Seiten der Figuren in den Vordergrund gehoben werden. Sie spielt dabei mit den Antizipationen des Lesers und enttäuscht sie immer wieder, indem sie den einzelnen Erzählungen unvorhersehbare Wendungen verleiht. Das macht Anselms Erzählungen zwar recht spannend zu lesen, führt allerdings in Verbindung mit dem Erzählstil zu weiterer Rat- und Verständnislosigkeit. Da der Leser nur einen kleinen Einblick in die Welt der Figuren bekommt, ohne ihre Gedanken, Motivationen oder sonstige Informationen zu kennen, kann man sich mit ihnen allerdings nicht wirklich identifizieren – sie bleiben ein Mysterium. Der Leser bleibt im Ungewissen und die einzelnen Kurzgeschichten lassen ihn rätselnd und verwundert, manchmal sogar schockiert, zurück.
Stereotypen
Die Figuren stellen Stereotypen dar, die jedoch stets verzerrt und entfremdet werden. So kommt es, dass das brave, nette Mädchen aus gutem Hause andere zum Mobbing anstiftet. Doch dabei bleibt es nicht, denn was geschildert wird, ist hochgradig brutal und könnte geradewegs einem Krimi aus dem Fernsehen entnommen sein. Die beiden Mädchen ertränken einen älteren Jungen fast im Gartenteich und brandmarken ihn anschließend – wie ein Pferd. Der Ausgang der Geschichte ist erstaunlich harmlos; das Mädchen, welches zum Mobbing angestiftet hat, scheint ohne große Strafen oder dergleichen davonzukommen. Besonders diese Szene und ihr Ausgang machen stutzig. Man fühlt sich irritiert und ein unbehagliches Stirnrunzeln begleitet den Anfang der nächsten Erzählung. Der Menge der aufgegriffenen Stereotypen und Vorurteile ist dabei kaum eine Grenze gesetzt. So spricht der iranische Kioskverkäufer natürlich auch keine ganzen, grammatikalisch richtigen Sätze. Aber auch die Natur, inszeniert als Gegensatz zur Stadt, rückt als negativer und bedrohlicher Einfluss in den Vordergrund, der es auf das gemütliche Familienleben abgesehen zu haben scheint.
Fragmentarisches Erzählen
Die Erzählungen besitzen dabei keine Einleitung, der Leser taucht sofort ein ins Geschehen, sodass erst einmal die Beteiligten und ihre Umstände unklar sind. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden dabei teilweise gar nicht deutlich oder werden nicht konkretisiert, sodass der Leser nur vermuten kann. Auch Sprünge, ob nun die Zeit oder den Ort betreffend, kommen häufiger vor. Vorherrschend ist also das Gefühl der Planlosigkeit und Verwirrung, welches die Geschichten hinterlassen. Durch die fehlenden Hintergrundinformationen wird man bereits während des Lesens zum Nachdenken über die kritischen Themen, die in der Gesellschaft oft unbesprochen bleiben, angeregt. Wem brisante Themen, wie etwa die Reportage eines öffentlichen Selbstmordes, nicht zusagen, der sollte und in dem Moment holt meine Liebe zum Gegenschlag aus lieber im Bücherregal lassen. Auch die Überschriften der einzelnen Kurzgeschichten sind nicht besonders aufschlussreich über ihren Inhalt. Sie bestehen zumeist aus einem Wort oder aber einer kurzen Phrase, die den Wendepunkt der Geschichte genauer bezeichnet. Aber die kurzen Phrasen ergeben häufig erst während der Geschichte oder am Ende Sinn, sodass sie oft erst verstanden werden können, wenn die Geschichte zu Ende gelesen worden ist.
Figurengeschichte
In Anselms Kurzgeschichtenband finden sich Figuren aus allen Altersgruppen: ein Kleinkind, das nachts abhaut, junge Frauen und Männer, aber auch ältere Menschen. So findet beispielsweise eine ältere Dame eine neue Lebensgefährtin mit der sie sich im Gartenhaus niederlässt. Aber nicht nur das Alter, sondern auch die Nationalitäten werden miteinbezogen. Anselm versucht also die Gesellschaft so abzubilden, wie sie der Leser aus der Realität kennt. Durch die Situationen wird man beim Lesen auf die Missstände der Gesellschaft hingewiesen. Es findet zwar keine direkte Wertung statt, allerdings wird die Bewertung der Taten durch die Darstellung oder Auslassung dessen, was der Leser erwartet, impliziert. So gibt es neben einem iranischen Kioskhändler auch einen Asiaten im Urlaub. Seine Wahrnehmung der Situation steht im Gegensatz zu der der Anwohner. Die Namen der Figuren sind dabei zum Teil ebenfalls ungewöhnlich. So beispielsweise der des Jungen namens Krolle, oder aber der des Lehrers namens Poelchau. Die verwendeten Namen schaffen zusätzliche Distanz, so wie das fragmentarische Erzählen und auch Verwunderung. Sie regen aber auch zum Nachdenken an, über die Situationen, die im Alltag zu Veränderungen führen und die Menschheit selbst. Denn all das, Mobbing und Brutalität, Selbstmord und versuchter Mord, aber auch viel Trivialeres, finden täglich statt. Anselms Kurzgeschichtenband bietet also jede Menge Möglichkeiten, sich kritisch mit der Gesellschaft auseinander zu setzen, ob nun mit den schwarzen Schafen innerhalb oder den Bestrafungsmechanismen. Um einen leicht zu lesenden Kurzgeschichtenband mit positivem Grundton handelt es sich hier allerdings nicht.