Jean Rondeau ist das neue Enfant terrible des Cembalos. Eindrucksvoll demonstriert der 26-jährige Franzose, dass jenes antiquierte Vorläuferinstrument des modernen Klaviers heute keineswegs (nur) ins Museum gehört, sondern nach wie vor verschiedenste Konzertbesucher zu begeistern vermag. Sein neues Album Vertigo ist mehr als ein Geschenk für die Freaks der sogenannten Alten Musik: ein Genuss für alle, die mit ihren Ohren die bezaubernden Kulissen des französischen Barocktheaters durchwandern möchten.
von HELGE KREISKÖTHER
1991 in Paris geboren, gehört Jean Rondeau inzwischen längst zu den großen Pianisten – pardon: Cembalisten – unserer Zeit. Zwar gab es und gibt es bereits viele andere namhafte Musiker, die auf sehr virtuose Weise historische Tasteninstrumente „zu neuem Leben“ erweckt haben – sei es das Cembalo für das Repertoire von Bach, Scarlatti & Co. oder das nachfolgend entwickelte Hammerklavier (das buchstäbliche „Pianoforte“) für die Musik der Beethoven-Ära –, doch Rondeau lässt sich wohl dennoch als Ausnahmeerscheinung bezeichnen: Mehr noch als z. B. Andreas Staier oder Kristian Bezuidenhout, deren interpretatorische und musikwissenschaftliche Verdienste nicht im Geringsten geschmälert werden sollen, taugt der besessene junge Franzose vielleicht besonders zum „Vermittler“ zwischen den Liebhabern fundierter historischer Aufführungspraxis und aufgeschlossen-entdeckungsfreudigen Laienohren.
Nach Imagine (diverse Bach-Transkriptionen) und Dynastie (Concerti von Bach und seinen Söhnen) ist Vertigo das dritte Soloalbum von Jean Rondeau. Wer ihn einmal live gesehen hat, ahnt, dass hinter dem bärtigen, ein wenig an Jesus von Nazareth erinnernden Gesicht mit der verwegenen Frisur und dem hochgradig fokussierten, beinah neurotischen Blick eine Menge Kreativität und Hingabe steckt – Hingabe für die großen Musiker des 17. und 18. Jahrhunderts, die nach ihrem Tod oftmals der Vergessenheit anheimgefallen sind, aber auch für die Poesie der barocken Künste im Allgemeinen. So verwundert es kaum, dass Rondeau Vertigo nicht als bloße CD-Einspielung präsentiert, sondern durchaus als eine Art Gesamtkunstwerk mit spannender Dramaturgie und eigens verfassten Hintergrundtexten.
Die Herren Rameau und Royer
Im Mittelpunkt dieses rund 70 Minuten langen Gesamtkunstwerks in drei Aufzügen (Die Poesie – Die Musik – Der Tanz) stehen die französischen Barockkomponisten Jean-Philippe Rameau (1683–1764) und Joseph-Nicolas-Pancrace Royer (ca. 1705–1755). Wird schon ersterer heute vor allem im deutschsprachigen Raum vergleichsweise immer noch viel zu selten aufgeführt, so dürfte letzterer wirklich nur den musikhistorisch Versiertesten ein Begriff sein. Rondeau führt im Booklet daher zunächst in das umfangreiche Schaffen von Rameau und Royer ein, welches in allererster Linie dem prächtigen höfischen Musiktheater gewidmet war. Dabei vermeidet der Cembalist akademische Floskeln und ermüdende Fachtermini zugunsten persönlicher Worte mit fast schon dichterischer Qualität (im französischen Originaltext noch um einiges authentischer): „Ich bleibe in gewisser Weise immer ein kleiner Junge, der mit seinem Cembalo zwischen Monstern und Musen, furchteinflößenden Masken und unnahbaren Göttinnen herumspaziert, dünne gezupfte Saiten gegen gigantische Maschinerien.“ Kenner mögen dies für esoterisch halten, ein Laienpublikum wird somit aber möglicherweise erst wirklich neugierig gemacht.
Konkret hat sich Rondeau Stücke von Rameau und Royer ausgesucht, die zwischen 1706 und 1746 entstanden und in zyklischen Bänden sogenannter Pièces de clavecin veröffentlicht worden sind. Diese schlichte wie in der französischen Instrumentalmusik des Hoch- und Spätbarock gängige Gattungsbezeichnung steht bei ihnen für virtuoseste, das gesamte harmonische Spektrum auskostende Suitensammlungen, bestehend aus Vorspielen (Préludes), schmissigen Tanzfolgen, Variationen und anderen, formal freier gehaltenen Stücken. Die Namen der insgesamt 16 eingespielten Suitensätze auf Rondeaus Album sind für den Hörer besonders interessant, denn Überschriften wie L’entretien des muses („Das Gespräch der Musen“), Les niais de Sologne („Die Dummköpfe von Sologne“), Menuet pour les ombres heureuses („Menuett für die glücklichen Schatten“) oder La marche des Scythes („Marsch der Skythen“) wecken natürlich nicht ausschließlich musikalische, sondern auch literarische und kunstgeschichtliche Assoziationen. Das titelgebende Vertigo (wörtlich „Schwindel“, aber eben auch „Taumel“ im übertragenen Sinne) ist übrigens eine technisch enorm anspruchsvolle, wuchtige Fantasie aus der Feder Royers, „eine Oper in dreihundert Sekunden“, wie Rondeau sagt, mit der er Hitchcock huldigen wollte, „auch wenn [d]er damit nichts zu tun hat“.
Charakterstücke mit vielen Highlights
Es ist der Stimmungsreichtum dieser zahlreichen kleinen (d. h. zwei- bis immerhin achtminütigen) Cembalostücke, der den Reiz von Vertigo ausmacht. Zwar erscheint das Rhythmisch-Tänzerische als Einheit stiftendes Element, doch gibt es auch einige Nummern, die zum Innehalten einladen, etwa La Zaïde von Royer. Manche Stücke Rameaus haben wiederum ein phänomenales Ohrwurmpotenzial, allen voran das aus dem Ballett Les Fêtes d’Hébé extrahierte Tambourin oder das relativ populäre Abschlussstück des Albums: Les sauvages („Die Wilden“), ursprünglich ein Chor aus der Oper Les Indes galantes. So kommt zwischen den ersten majestätischen Takten eines a-Moll-Präludiums von Rameau und der melancholischen „Zugabe“ L’aimable von Royer keine einzige Minute Langeweile auf. Im Gegenteil: Den Kampf um die musikalische Vorherrschaft, den die beiden Komponisten ab 1739 auf den Bühnen von Versailles und Paris mit allen Mitteln ihrer Kreativität ausfochten, zeichnet Rondeau mit seinen zehn Fingern sehr anschaulich nach. Theater fürs Klavier – Franz Liszt, der mit seinen Transkriptionen und Paraphrasen etliche Operndauerbrenner in die Wohnzimmer des 19. Jahrhunderts brachte, hätte zweifellos Gefallen an Vertigo gefunden.
Wer den Klang eines solistischen Cembalos nicht gewohnt ist, mag ihn im unmittelbaren Vergleich zu einem Steinway erst einmal monoton finden. Es sei jedoch wärmstens empfohlen, dem Ohr dieses ungewohnte Klangerlebnis „zuzumuten“ und nötigenfalls beim Hören des Albums Pausen einzulegen, um wirklich jedes Stück genießen zu können. Denn jedes dieser 300 Jahre alten Stücke verdient auch von uns Angehörigen des 21. Jahrhunderts die volle Aufmerksamkeit. Wer dagegen schon intensiv mit (französischer) Barockmusik vertraut ist, wird Rondeaus Anschlagskunst bewundern – mal zupackend, mal silbrig-zart, mal schmetternd, mal dahingeträumt –, genießen, wie souverän er kontrapunktische Stimmen aufeinander zulaufen lässt und, last but not least, den fulminanten Klang dieses „Clavecin historique“ aus dem Château d’Assas bei Montpellier zu schätzen lernen (verantwortlich für die Tontechnik und Abmischung: Aline Blondiau). Alles in allem erweist sich Vertigo demnach nicht nur als „das perfekte Album für einsame Herbstabende“, wie es ein Frankfurter Kritiker formulierte, sondern als eine überjahreszeitliche, schwung- und stimmungsvolle Zelebrierung zweier französischer Tastenmeister, eine wortwörtliche fête baroque.
Jean Rondeau: VERTIGO
Erato / Warner Classics
Preis: ab 16,49 €
ISBN: 0-825-646-974-580