Die Geschichte eines, der abstürzte

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Ein arroganter Musikkritiker und gelangweilter Ehemann, der urplötzlich aus dem braunbreiten Sessel seines dahindümpelnd-bequemen Lebens herausgeschubst wird und hart auf dem Boden aufschlägt: Das ist nicht das Ende, sondern der Beginn von Josef Harders Film Wilde Maus, eine liebevolle und gleichzeitig schonungslose, urkomische Tragikomödie, in der der Regisseur selbst die Hauptrolle spielt.

Von HANNAH SCHMIDT

„Sie haben einen alten Vertrag“, sagt Georgs Chef (Jörg Hartmann), „sie kosten einfach viel mehr als die jungen Kollegen.“ Seine Hände sind auf dem Schreibtisch gefaltet, sein Blick süffisant und kühl, als er der selbsterklärten „Instanz“ (Josef Harder) kündigt. „Es wird Leserproteste geben!“, entgegnet dieser, fassungslos und vor allem eins: beleidigt. Zu bequem hatte er es sich gemacht in seinem Job als Kritiker mit seinem Ruf des besonders harten Verrisse-Schreibers, der „nichts anderes gelernt“ hat. So tief ist er gedemütigt, dass er von dieser Misere seiner deutlich jüngeren Frau Johanna (Pia Hierzegger), Psychotherapeutin und darauf fixiert, endlich schwanger zu werden, nichts erzählt. Und –„Aaaaaachtung, festhalten!“ – das Unheil nimmt seinen Lauf.

Was Josef Harder in seinem Regiedebüt erzählt, ist ein Gleichnis: Ungebremst lässt er seinen Protagonisten ins Verderben rauschen, weil dieser nicht kommuniziert. Gar nicht. Weder sagt er seiner Frau, was passiert ist, noch spricht er sich mit seinem Ex-Chef aus oder überhaupt mit jemand Drittes über seine Gefühlslage. Stattdessen geht er jeden Tag wie gewohnt aus dem Haus, erfindet Geschichten, warum es derzeit in der Redaktion so stressig sei, beginnt einen Einzelkämpfer-Rachefeldzug: Was mit dem Demolieren des Ex-Chef-Cabriolets anfängt, zuerst mit Schlüsseln, später mit Schweizer Taschenmesser, steigert sich bis zur Waffenschein-Ausbildung und einem Pistolen-Prügel-Showdown vor einer Niederösterreichischen Berghütte mit anschließendem Selbstmordversuch, nackt im Schnee mit Jack Daniel’s und Schlaftabletten.

Eine bunte Kinderachterbahn

Titelgebend für diese wilde Spiralfahrt immer und immer weiter in den Abgrund von Georgs Existenz ist dabei aber das, was er als eine Art neues Leben anfängt: die Freundschaft mit dem Bimmelbahn-Fahrer Erich (Georg Friedrich) im Freizeitpark, mit dem er die stillgelegte Achterbahn „Wilde Maus“ kauft und diese versucht, wieder zum Laufen zu bringen. Die „Wilde Maus“ ist dabei jedoch bei Weitem kein Freefalltower oder eine gefährlich anmutende Looping-Achterbahn, sondern ein knallbunter kurviger Kinderspaß ohne hohe Altersgrenze. Allein diese Symbolik ist wunderbar ironisch: Johanna denkt, Georg hat eine andere, weil er nachts nicht nach Hause kommt. Dabei trinkt er mit dem zahnlosen Erich auf dem Jahrmarkt Bier und sprüht gelbe Ziersterne auf einen Achterbahnwaggon.

Es ist bezeichnend, wie schnell Georg dabei das, was jahrzehntelang sein Leben und scheinbar seine Leidenschaft prägte, zu vergessen scheint: die Musik, das Besuchen von Konzerten. Arcangelo Corellis Violinsonate La Folia, Franz Schuberts 14. Streichquartett oder Igor Strawinskys Feuervogel hört er noch im Auto, um sich abzureagieren, geht am Tag seiner Kündigung ein letztes Mal abends ins Konzert – „geben Sie mir einfach irgendwas!“ – und hört mit einer Mischung aus weinerlichem und teilnahmslos-leerem Blick Schuberts Der Tod und das Mädchen. Mit seinem Beruf scheint auch die Berufung futsch, der Besprechungsgegenstand Musik wurde nach und nach selbst gegenstandslos, das Schreiben war Georgs Potenz, ohne es wirkt er gleichzeitig völlig entleert. „Du unterdrückst den Samenerguss“, wirft ihm Johanna einmal im Streit vor. „Du willst überhaupt kein Kind.“ Verlag, Chef und Leser auf der einen und Johanna auf der anderen Seite erwarten von ihm Stehvermögen, Urteilskraft und Stärke – und in dem Moment, in dem diese Erwartung wegbricht, Johanna ihren Kindertraum mehr und mehr aufgibt und sich von Georg trennt, zerbricht auch Georgs Selbstbild.

Tiefe durch szenische Erzählung

Dass er vor allem ein Mensch zu sein scheint, der sich durch Äußerlichkeiten definiert, durch Dinge, die andere ihm zuschrieben, wird ihm zum Verhängnis. Die Wesens-Essenz, die sich in dieser Katastrophe herauskristallisiert, ist motivationslos, trotzig, aggressiv und schlecht gelaunt. Die Extremsituation, in der jeder Schleier von ihm abgestreift ist, legt den verletzlichsten Teil seiner Seele bloß und am Ende auch seinen Körper. Die Metaphorik des Films funktioniert wunderbar, die Geschichte bekommt durch die bildliche, szenische und musikalische Erzählung eine Tiefe, die eine Geschichte durch ihre Verfilmung im allerbesten Fall bekommen kann. Georg ist bemitleidenswert und ein intellektuelles Vorbild, er ist feige und dabei getrieben von einer großen Kraft und starkem Willen, er ist ein totaler Idiot – und genau so liebenswert.

Wilde Maus (2017). Regie: Josef Harder. Darsteller: Josef Harder, Pia Hierzegger, Jörg Hartmann, Denis Moschitto, Georg Friedrich. Laufzeit: 103 Minuten. Erhältlich auf DVD.

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