Dorota Kobiela und Hugh Welchman haben das gemacht, was zwar nach einer sehr naheliegenden Idee klingt, aber trotzdem noch nie versucht wurde: Sie haben mit Loving Vincent einen Animationsfilm über Vincent van Gogh kreiert, in dem sie alle Figuren und Schauplätze Kunstwerken des niederländischen Malers entnommen haben. Das sieht nicht nur verdammt gut aus, sondern tröstet auch über die eher magere Handlung hinweg.
von CARO KAISER
Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975) wird von vielen Cineasten gerade deshalb verehrt, weil man sich so gut wie jeden einzelnen Shot als Ausdruck über den Kamin hängen und dann vor Freunden mit Wissen über englische Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts angeben kann. Kubrick – in seinem genialen Wahnsinn – hat alles (Film-)Menschenmögliche getan, um diesen Film, der bei seinem Erscheinen nicht unbedingt die Massen ins Kino gebracht hat, wie ein sich abspielendes Gemälde aus der Zeit seiner Handlung aussehen zu lassen. Selbst vor einer Setbeleuchtung, die lediglich aus Kerzenlicht bestand – das ungefähr so viel Licht erzeugt wie eine Kartoffelbattterie – hat er nicht zurückgeschreckt. Aber Barry Lyndon bleibt nichtsdestotrotz ‚nur‘ ein Film. Niemand sieht ein Standbild aus Barry Lyndon und denkt sich: „Hey, das hat doch William Hogarth gemalt!“ Dorota Kobiela und Hugh Welchman sind dem Problem, reale Aufnahmen wie gemalte Aufnahmen aussehen zu lassen, mit Loving Vincent einfach direkt aus dem Weg gegangen und haben sich 120 Maler geholt, die mal eben – ausgehend von Gemälden Vincent van Goghs – über 65.000 Einzelbilder gemalt haben, um so einen Film über das Rätsel um van Goghs Tod mit dem Pinsel zu verfilmen. Hier bekommt man beim Arthouse-Kino wirklich noch, was draufsteht!
Irgendwo muss die Innovation doch aufhören!
Leider hat der Wagemut von Kobiela und Welchman anscheinend nicht mehr fürs Drehbuch gereicht: Loving Vincent ist ein spannungsloser Krimi, der als Tatort selbst den anspruchslosesten Fan unbefriedigt zurücklassen würde. Das Problem liegt hauptsächlich darin, dass der Film versucht, ein Verbrechen zu lösen, von dem er selbst nicht einmal weiß, ob es überhaupt geschehen ist: der (mögliche) Mord an dem ebenso berühmten wie exzentrischen Maler Vincent van Gogh, der sich (angeblich) selbst erschossen haben soll. Angestoßen wird die Handlung, die rund ein Jahr nach dem Tod des Malers ansetzt, von einem Abschiedsbrief van Goghs an seinen Bruder Theo, der bis dato noch nicht zugestellt werden konnte, da Theos Aufenthaltsort unklar ist. Hobbykneipenprügler, bald auch Hobbydetektiv, Armand Roulin (Douglas Booth) erhält von seinem Vater, dem Postboten und Trinkgesellen van Goghs, den Auftrag, dafür zu sorgen, dass dieser Brief endlich zu seinem Adressaten gelangt. Schnell findet Roulin heraus, dass Theo in der Zwischenzeit ebenfalls verstorben ist. Roulin führt es schließlich nach Auvers-sur-Oise, das Örtchen, wo van Gogh gestorben ist, um van Goghs Arzt und Vertrauten Dr. Gachet (Jerome Flynn) aufzusuchen. Hier fängt Roulin an, die Einwohner nach ihrem Eindruck von van Gogh zu befragen und bekommt immer mehr Zweifel an der offiziellen Version von van Goghs Tod. Wirkliche Krimidynamik kommt dabei nur selten auf. Das Genrekorsett Krimi steht dem Film einfach unvorteilhaft: Für einen guten Krimi braucht es, zumindest an irgendeiner Stelle in der Handlung, einen oder mehrere Verdächtige. Loving Vincent ist aber viel zu beschäftigt, seinen Titelhelden in – sehr schönen, sich vom Malstil der Haupthandlung abgrenzenden – Schwarz-Weiß-Rückblenden zu beleuchten, als Zeit zu haben, irgendeine Nebenfigur glaubwürdig als möglichen Mörder aufzubauen. Fast bekommt man das Gefühl, der Film sei nur zufällig ein Krimi geworden.
Ein Déjà-vu nach dem anderen
So hart das alles auch klingen mag, Loving Vincent ist dennoch ein sehenswerter Film. Die etwas sinnlose, weil verbrechenslose Krimihandlung stört nicht so sehr, als dass sie den Gesamteindruck der durch das Visuelle entsteht, kaputt macht. Auf der offiziellen Internetseite des Films schreiben Kobiela und Welchman: „We believe that you cannot truly tell Vincent’s story without his paintings“. Tatsächlich hat man nach dem Film das Gefühl, man könne nun keinen Film mehr über van Gogh machen, ohne seine Bilder als einzige Grundlage des Visuellen zu nehmen. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase in den doch sehr eigenwilligen Animationsstil des Films lernt man die zusätzliche Ebene zu schätzen, die sich durch die Rückgriffe auf die Werke van Goghs ergibt. Selbst einem van Gogh-Laien wird es mehr als einmal passieren, dass er denkt: „Das kenn ich doch!“ Bei Filmbiografien über Künstler hat man öfter das Gefühl, dass das Werk des Künstlers gegenüber einem dramatischen Handlungsbogen in den Hintergrund gedrängt wird. Bei Loving Vincent tritt der gegenteilige Fall auf: Hier ist man schon mal so sehr von den zum Leben erweckten Gemälden fasziniert, dass man ganz vergisst, darauf zu achten, was die Figur überhaupt gerade sagt. Der filmische Mehrwert von Loving Vincent liegt also eindeutig in seiner künstlerischen Gestaltung. Aber für das Klientel, welches der Film ansprechen möchte (Kunstliebhaber und Freunde eines eher experimentellen Kinos) sollte dieser beeindruckende und außergewöhnliche Stil Grund genug sein, um Freude an dem Film zu finden. Viel Vergleichbares gibt es nämlich (noch) nicht.
Loving Vincent (2017). Regie: Dorota Kobiela, Hugh Welchman. Darsteller: Douglas Booth, Saoirse Ronan, Jerome Flynn. Laufzeit: 94 Minuten. Seit dem 28. Dezember 2017 im Kino.