Im Spiegelstadium

In seinem neuen Film Der andere Liebhaber wühlt der französische Ausnahmeregisseur François Ozon tief in der psychoanalytischen Mottenkiste. Mit dem Doppelgängermotiv und einem Spiegelkabinett im Gepäck will Ozon die weibliche Psyche ergründen – mit fragwürdigem Ausgang.

 von LEONARD MERKES

Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion heißt der berühmt gewordene Aufsatz des französischen Psychoanalytikers Jaques Lacan. Knapp zusammengefasst geht es um die Herausbildung einer Ich-Identität im Säuglingsalter. Das Kleinkind sieht sich zum ersten Mal im Spiegel und begreift sich als vollständige Einheit, als Subjekt statt als fragmentiertes Wesen. Blöd nur, dass es lediglich sein Spiegelbild ist. Lacan nennt es das Imaginäre. Fortan muss der Mensch bis ins hohe Alter um die Illusion seiner einheitlichen Identität fürchten. Denn eigentlich ist er von sich selbst entfremdet, aufgespalten in zwei Ichs, dem spiegelbildlichen (moi) und dem „wirklichen“ (je) Ich, wobei nicht immer klar zu sagen ist, was was ist. Ozon (Swimming Pool, In ihrem Haus) hat bereits bewiesen, dass er ein Meister des Verkennens und Erkennens, des Doppelbödigen und des Auslotens der unsicheren Grenzen zwischen Realität und Fiktion ist. In Der andere Liebhaber wird sein Verwirrspiel um (sexuelle) Identität, Wirklichkeit und Imagination mit omnipräsenten Doppelgängern pathologisch.

Der doppelte Liebhaber

 Die Ausgangslage des Films ist schnell erzählt. Das Ex-Model Chloé (Marine Vacth, mit der Ozon auch schon in Jeune et jolie zusammengearbeitet hat) leidet unter starken Bauchschmerzen. Psychosomatisch seien diese bedingt, meint die Gynäkologin. Sie beginnt eine Psychotherapie beim jungen Therapeuten Paul (Jérémie Renier); einige psychologische Allgemeinplätze werden abgehandelt (innere Leere, das Gefühl, in der Kindheit von der Mutter nicht geliebt worden zu sein) und schon haben sich die beiden ineinander verliebt und sind zusammengezogen. Die Bauchschmerzen sind auch weg. Während Paul weiter als Therapeut arbeitet, verdingt sich Chloé halbtags in einem Museum für zeitgenössische Kunst als Wärterin (Die Ausstellung trägt den Titel „Blut und Fleisch“!) und sieht dabei manchmal selbst wie ein Kunstwerk aus. Abends kocht sie – ganz die gute Hausfrau – in der schmucken Wohnung über den Dächern von Paris für Paul. Doch bald merkt Chloé, dass ihr netter wie dröger Liebhaber, von dem sie schwanger zu sein glaubt, ihr seinen Zwillingsbruder Louis (Jérémie Renier) verheimlicht. Dieser ist auch Therapeut, aber charakterlich das genaue Gegenstück zu Paul: besitzergreifend, narzisstisch und aggressiv bis zur Gewalttätigkeit. Noch schneller überspringt Ozon, dessen Drehbuch lose auf dem Roman Lives of the twins von Joyce Carol Oates basiert, die eigentliche Therapie und die beiden beginnen hinter dem Rücken des ahnungslosen Paul eine fragwürdige Affäre. Was ein wenig nach Shades of Grey klingt, ist der Startschuss für ein Spiel mit erotischen Fantasien, der eigenen Identität und absorbierten Zwillingen.

Wie eine lange Sitzung beim Therapeuten

 Dass mit der Wahrnehmung Chloés etwas nicht stimmt, ahnt man schon zu Beginn, als ihr Gesicht mit Bildern surreal wirkender blutroter Schleier auf weißem Grund überblendet wird und sie anschließend schlaftrunken durch Paris gleitet. Es ist eine der wenigen Szenen, die ausnahmsweise ohne Spiegel auskommen. Denn in Ozons Film wimmelt es nicht nur von gespaltenen Persönlichkeiten, auch dank einer rekordverdächtigen Anzahl an Spiegeln kann man dem Geschehen nicht mehr so recht trauen.

Wenn man aber schließlich zum x-ten Mal sieht, wie Marine Vacths Chloé durch kühle Museen oder schicke Lobbys schreitet und sich dabei in tausend Spiegeln verliert, kommt einem zunehmend die Lust abhanden, diesem etwas überfrachteten Vexierspiel zu folgen. Auch die Sexszenen, eingefangen von Manu Dacosses voyeuristischer Kamera, versprühen wenig Erotik und haben alle etwas Klinisches. Während im therapeutischen Gespräch lediglich Binsenweisheiten abgehandelt werden, erfährt man hier nun etwas über Chloés verborgenes sexuelles Verlangen. Symbolisch montiert Ozon Schamlippen zum Mund. Die „andere Therapiemethode“ von Louis ist tatsächlich eine. Selbst er und sein Alter Ego Paul kommen nicht um die Erörterung eigener Kindheitsverletzungen herum.

„genital feminin“

 Verharrt das Treiben um die aufgespaltene Identität über weite Teile in der verwirrten Psyche der Protagonistin, kehrt es am Schluss zum Ausgangspunkt zurück: zum Körper. Die Ursachen ihrer vermeintlichen Schwangerschaft und der Bauchschmerzen waren physisch bedingt. Sie hatte sich ihren Zwilling buchstäblich einverleibt. ‚Foetus in foeto‘ nennt man dieses selten auftretende Phänomen während einer Schwangerschaft. Der Spuk scheint aus und selbst mit der sie nicht liebenden Mutter gibt es eine versöhnliche Umarmung. Nur in der letzten Szene, als Chloé und Paul sich wieder in den Betten wälzen, kommt das Unbehagen für einen kurzen Moment zurück. Da hämmert ihre Doppelgängerin ziemlich rabiat an die gespiegelte Scheibe. Sie zerbricht in tausend Teile, gerade als Chloé zum Höhepunkt kommt. Nur die völlige Fragmentierung des Ichs mittels vaginalem Orgasmus scheint Ozons zweifelhafte Lösung für das Lacansche Identitätsproblem zu sein.

Der andere Liebhaber (2017). Regie: François Ozon. Darsteller: Marine Vacth, Jérémie Renier, Jaqueline Bisset. Laufzeit: 107 Minuten. Seit dem 18. Januar 2018 im Kino.

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