
Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau. Cover: Hanser
von THOMAS STÖCK
Diese Erzählung hat die perfekten Voraussetzungen zu einem herausragenden Buch: ein Nobelpreis-prämierter Autor (Orhan Pamuk), ein für sein Werk mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichneter Übersetzer (Gerhard Meier) sowie das klassische Thema des ödipalen Vatermords mitsamt dem inzestuösen Verhältnis zur Mutter. Bereits vor seiner erzählerischen Geburt wird dem Protagonisten Cem sein Schicksal in die Wiege gelegt. In die Fußstapfen Ödipus’ soll er treten, der tragische Held, dem es auferlegt ist, seinen eigenen Vater zu töten und seine eigene Mutter zu ehelichen. Noch vor dem ersten Kapitel prophezeien ihm die durch den Autor gewählten Zitate das Unausweichliche. Während Cems leiblicher Vater zunächst aufgrund seiner politischen Überzeugung interniert wird und im Anschluss daran seine Familie verlässt, bleibt der Sohn mit seiner Mutter allein zurück. Geldsorgen nötigen ihn dazu, mehrere Nebenjobs zu übernehmen. Und so begegnet Cem auf Umwegen Meister Mahmut, einem Brunnenbauer, der ihn in die Lehre nimmt. Die wenigen gemeinsamen Tage schildert Pamuk ohne Hast. Er führt den Leser und Cem in die Kunst der Brunnenfertigung ein, während sein Meister für ihn zum Vaterersatz, ja beinahe zum Doppelgänger des Vaters wird. Zeitgleich tritt eine rothaarige Frau Mitte 30 in Erscheinung, eine Schauspielerin namens Gülcihan, in die sich Cem augenblicklich verliebt. Und so nimmt die tragische Geschichte ihren Lauf: Zuerst schläft der junge Mann mit der Frau, die von sich sagt, sie „könnte [s]eine Mutter sein“. Dann entleert er aus Unachtsamkeit einen mit Aushub beladenen Eimer in einen über zwanzig Meter tiefen Schacht – auf Meister Mahmut, der hierdurch verunfallt.
Zwischen Ödipus und Rostam, Laios und Sohrab
Aber zurück auf Anfang: Zwei der eingangs erwähnten Zitate implizieren das Schicksal des Griechen, ein drittes Zitat jedoch weist einen anderen Weg. Pamuk nutzt als Vorlage einen weiteren Meilenstein der Literaturgeschichte. Hierbei handelt es sich um das persische Nationalepos Schāhnāme, die von Abū ʾl-Qāsim Firdausī um 1.000 nach Christus verfasst wurde. An dieser Stelle entfaltet sich das volle literarische Potenzial des Romans. Das ihm eingeschriebene Schicksal scheint für Cem unausweichlich, bis Meister Mahmut ihm einen alternativen Ausgang eines Vater-Sohn-Konflikts offenbart: den unwissentlichen Mord Rostams am eigenen Sohn Sohrab, wie er in Schāhnāme geschildert wird. Die vermeintlich klare Rollenverteilung wird zur krimiartigen Charade.
Da ist es nur passend, dass sich der junge Protagonist ein neues Leben aufbaut mit Ayşe, einer deutlich konservativeren, jüngeren Frau. Statt in die Freuden des Elternseins, das ihnen aufgrund von Ayşes Unfruchtbarkeit verwehrt bleibt, stürzen sich beide in ihre Arbeit und gründen eine Baufirma – mit dem Namen Sohrab. In diesem zweiten Teil seines Lebens bereist Cem die Welt, um mehr über die beiden Geschichten herauszufinden, die sein Leben geprägt haben. Doch die Vergangenheit beginnt ihn einzuholen, sodass es ihn wieder an den Ort zurückzieht, wo sein Schicksal seinen Ausgangspunkt nahm…
Showdown des Versteckspiels
Pamuk kreiert mit Die rothaarige Frau einen spannungsreichen Thriller, dessen zahlreiche Wendungen zu überraschen wissen, die an dieser Stelle ganz bewusst nicht verraten werden sollen. Aber mit einem 0815-Krimi hat dieses Werk beileibe nichts zu tun, gelingt neben der Unterhaltung des Mitratens doch auch das Einbetten intertextueller Verweise, mit denen eine Rückbesinnung auf das kulturelle Erbe der heutigen Türkei bewerkstelligt werden soll: eine dichotome Landschaft zwischen Orient und Okzident. Die Wiederentdeckung Schāhnāmes sei in diesem Kontext anzuführen, gleiches gilt für ein Schauspiel der Gruppe um Gülcihan: „In einer Szene kam der Mann, den ich für den Vater der rothaarigen Frau hielt, mit einer karottengroßen Nase auf die Bühne, und so galt er mir als Pinocchio, und erst viel später erfuhr ich, dass die lange Tirade, die er vortrug, aus Cyrano de Bergerac stammte.“ So erklärt uns der Erzähler selbst, dass die in Vergessenheit geratenen Werke uns stets erneut ereilen: „Das Schahname an sich ist also vergessen, aber manche Geschichten daraus leben weiter. Und kommen zu uns in neuem Gewand.“ Weshalb sich nicht nur die Lektüre der Wiedergänger lohnt, sondern auch des Originals. Sprachlich untermauert Pamuk das Einhergehen von pointierter Einfachheit mit Qualität. Gerhard Meier hingegen ist anzukreiden, dass sein Text teils zu Bayerisch-Deutsch daherkommt – „Vergelt’s Gott, Meister“ erweckt den Eindruck, der Genese eines in der islamischen Türkei verhafteten Romans nicht gerecht zu werden, auch wenn es sich de facto um eine genaue Übersetzung der türkischen Floskel „Allah razı olsun“ handelt. Dies ist jedoch der einzige Makel einer ansonsten hochwertigen Übersetzung, der somit kaum ins Gewicht fällt.
Das Bühnenbild dieses Werks, in weiten Teilen das in der Entwicklung zur modernen Großstadt begriffene Istanbul und seines Vororts Öngören, unterstützt den Eindruck einer Erzählung, die Komponenten klassischer Erzählungen aufgreift – zum Beispiel die Wunschvorstellung des gemeinsamen Lesens und eines hierdurch ausgelösten Kusses zwischen Cem und Gülcihan –, und diese zu einem Roman reifen lässt, dessen Spannungsbogen auf den finalen Showdown zuläuft, wie man es aus Actionfilmen, Krimis und Thrillern dieser Tage kennt. Das Ende des Versteckspiels steht bevor und Cem weiß: „Seinem Schicksal kann niemand entrinnen.“ Nur welchem?
Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Carl Hanser Verlag, 288 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-446-25648-4