
“2666” am Schauspiel Köln Foto: Simon Gosselin
Die Theateradaption 2666 von Julien Gosselin nach dem Roman des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño ist ein bildgewaltiger Krimi, der eigentlich gar kein Krimi ist. Doch scheint die über achtstündige Inszenierung nichtsdestotrotz eine unendliche Suche, nicht nur der Figuren, sondern ebenso des Schriftstellers, Darstellers und Regisseurs zu sein, in deren Bann der Zuschauer von der ersten Sekunde gezogen wird. Das Schauspiel Köln beherbergte Gosselins Compagnie Si vous pouviez lécher mon cœur und zeigte das viersprachige Gastspiel (französisch, englisch, spanisch, deutsch) als einziges Theater in Deutschland. Dem Stück gebührend, wurde im Spielplan daraus nichts Geringeres als ein „Oster-Event“ inklusive kulinarisch-festlicher Grundversorgung.
von SILVANA MAMMONE
Roberto Bolaños literarisches Wunderwerk ist nichts Geringeres als ein 1100 Seiten schwerer Kollos in fünf Teilen, die unzählig miteinander verwoben sind. Die Geschichten spielen beinahe auf der ganzen Welt, von den Metropolen Europas über die USA bis zur mexikanischen Grenzprovinz Sonora. Dabei stehen die Suche nach dem verschollenen Schriftsteller Archimboldi sowie die Fahndung nach dem Täter der zahllosen Frauenmorde in Santa Teresa zumindest augenscheinlich im Zentrum, ziehen sie sich doch wie zwei rote Fäden durch alle fünf Teile, aufblitzend, Figuren heimsuchend oder direkt im Fokus der Handlung. Wie bei jedem guten (postmodernen) Roman sieht man die eigentliche Geschichte vor lauter Binnengeschichten und Metaebenen nicht mehr, doch geschenkt bekommen wir dafür ein literarisches wie auch inszenatorisches Spektakel und die anregende Frage nach der Geschichte selbst: Wovon lebt sie? Müssen/können wir sie verstehen? Zumindest in Gosselins Adaption kann man nicht anders als einfach dem Strom zu folgen. Mal untertauchend, mal übermäßig um sich spähend und gespannt, folgen wir den Protagonisten der jeweiligen Stränge, darunter vier europäischen Literaturwissenschaftlern, einem mexikanischen Philosophen, einem New Yorker Journalisten, einer erfolglosen Fahndung in Sonora und schlussendlich Archimboldi selbst auf ihren Länder- und Gedankenreisen.
Nur in der Unordnung des Universums sind wir erkennbar
Dem Theaterzuschauer bietet oft nur der Strom der Zeit Orientierung. Dabei birgt die Reibung zwischen Ordnung und Struktur innerhalb einzelner linearer Erzählstränge großes Potenzial und wird inhaltlich und bildlich von Gosselin voll ausgeschöpft. Die Inszenierung meistert eine eindrückliche Balance zwischen Klarheit inmitten konstanter Veränderlichkeit. Die Erzählebenen spielen sich meist innerhalb perfekter Symmetrie ab: Glaskästen, Rampe, Leinwand (Bühne: Hubert Colas). Innerhalb dieser Symmetrie findet konstanter Ebenen-, Zeit-, und Perspektivwechsel statt. Vieles wird rückblickend von den Figuren erzählt, Videosequenzen werden als offene Vorgänge gefilmt, vieles an Text wird auf die Bühne projiziert. Zudem werden Medien direkt übertragen, wie beispielsweise Talkshow, Briefwechsel, Reportage etc., was der Inszenierung zusätzlich Lebendigkeit verleiht.
Irgendetwas suchen sie alle und stoßen dabei stets auf Unerwartetes. Amalfitano sucht vergeblich eine Formel, diese eine Hyperstruktur, unter die sich alle Philosophen und großen Denker fassen lassen. Doch verirrt er sich zunehmend in Phantasmen. „Wahnsinn ist ansteckend“, warnt ihn seine Tochter Rosa. Die Geschichte birgt auch eine der schönsten Anekdoten des Buches, denn eines Tages hängt Amalfitano eines seiner Bücher auf die Wäscheleine, er will „es der Witterung aussetzen, um zu sehen, ob es etwas über das Leben lernt.“ Wir werden es nie erfahren. Doch im Wahnsinn liegt bekanntlich Wahrheit, und so entlässt uns Amalfitano mit seiner schlussendlichen Formel. Angebot und Nachfrage sind nicht alles, nein, es muss heißen: „Angebot + Nachfrage + Magie (= Epik, Sex und dionysische Nebel).“

“2666” am Schauspiel Köln Foto: Simon Gosselin
Wir sind am Leben, weil wir nichts gesehen haben und nichts wissen
Gewalt, als unerklärliche, erdrückende Macht, als Versuchung, Verstrickung, Qual, ist ohne Zweifel eines der großen Themen des Romans. Innerhalb der Geschichte nimmt sie unzählige Formen an, auch in der Weise, wie sie erzählt wird. So mutet der Gewaltexzess an einem pakistanischen Taxifahrer an eine erotische Ménage-à-trois an, Frauenmorde und Vergewaltigungen werden klinisch-brutal aufgezählt und beschrieben, nicht zu vergessen die verbale Gewalt an Frauen, um nur Bruchteile zu erwähnen. Die Inszenierung findet ebenso zahlreiche und eindrückliche Wege, Gewalt auf die Bühne zu transportieren und dem Zuschauer zu vermitteln, sinnlich wie auch rational, und durchdringt dabei auch die subtilen Formen der Gewalt innerhalb der Erzählung. Gekonnt werden Licht (Nicolas Jubert) und Musik (Rémi Alexandre, Guillaume Bachelé) genutzt, um den Zuschauer zu reizen. Kaltes Licht erschafft neben den naturalistisch inszenierten Szenen eine fast klinische Atmosphäre, in der nicht selten Strobolicht die Augen quält und die Musik, eine Mischung aus Deep House Club Sound und dröhnender Atmo, im Magen wiederhallt. Dies wird besonders im „Teil von den Verbrechen“ deutlich, in der in Intervallen jeweils die erfolglose Fahndung nach dem Frauenmörder von Santa Teresa – „kein Polizist in Santa Teresa trinkt Milch“ – und die Mordtaten verfolgt werden. Dabei werden die Schilderungen der Leichenfunde und Tathergänge direkt auf Leinwand projiziert und mit lauter, düster-bedrohlicher Musik untermalt. Der Teil erlangt somit eine Monotonie, in der die beschriebene Gewalt schmerzt, doch auch entartet und so erfolgreich eine Hilflosigkeit darzustellen erreicht. Gleichzeitig wirft es den Zuschauer auf sich selbst, sein eigenes Rezeptionsverhalten zurück, denn er ist stets der Entscheidung ausgesetzt, ob er über die Morde, die unaufhörlich über dem Bühnengeschehen prangen, weiterliest oder nicht.
Nur die Lyrik ist nicht verseucht
Wie über Gewalt erzählen? Ab wann fehlen die richtigen Worte, und gibt es diese überhaupt? Genau an diesem Punkt kommt die Lyrik ins Spiel. Sie kann nicht lügen, denn sie bewegt sich stets in den nebulösen Sphären zwischen Sprache, Bedeutung und Gefühl. An Poesie fehlt es 2666 ganz und gar nicht, im Gegenteil ist sie ein bedeutender Aspekt der Erzählweise und dabei wunderschön und grausam zugleich. Auch hier findet Gosselin unzählige theatrale Übersetzungen und lässt gleichzeitig seine Bewunderung für den Text durchscheinen. Denn Lesen ist ein tatsächliches Muss in der Rezeption des Stückes und somit erweitert der Romantext oftmals die Bühne, erschafft so eine weitere Bedeutungsebene und überlässt den Zuschauer seiner imaginativen Freiheit. Besonders im fünften und letzten Teil, in dem sich Archimboldis Hintergrund und Geschichte aufklären, kommt die poetische Bildgewalt von Gosselins Inszenierung zur Geltung. „Du bist ein verirrter Riese in einem niedergebrannten Wald“, heißt es wiederholt, augenscheinlich über Hans Reiter (der wahre Name Archimboldis). Während der Zuschauer beinahe alles über ihn, seine Verstrickung im Zweiten Weltkrieg sowie sein literarisches Schaffen lernt, bleiben die vier Literaturwissenschaftler bis zum Schluss im Dunkeln. Eine weitere Suche, die nicht dort endet, wo erwartet: „Wie sind hier. Archimboldi ist hier, aber wir werden ihm nie näher sein.“ Insbesondere die Geschichte der vier Literaturwissenschaftler wirft die Frage auf, „inwieweit wir ein Werk wirklich kennen können“. Inmitten eines Neonröhren- Lichterwaldes, zwischen Nebel und Körpern hinter Glas, schließt sich vermeintlich der Kreis zwischen Archimboldi und Hans Reiter. Wir reisen durch den Abgrund des Zweiten Weltkrieges, landen in Wien und sind nicht wirklich orientiert. Denn „all dies Licht, das erstrahlt, ist Vergangenheit“. Auch die Literatur ist nur ein Licht, das schon erloschen ist. Wir können Teile erleuchten. Wir können weiter suchen, doch inwieweit ist Wut und Gewalt die natürliche Konsequenz im Kampf gegen das Unerklärliche, das immer weiter zu wachsen scheint? So wird auch das Erzählen der Darsteller oftmals beinahe aggressiv, hilflos und laut, als ob sie gegen das bereits Geschehene anzuschreien versuchen. Wie so viele Figuren in 2666 konnten sicherlich einige Besucher dieses außergewöhnlichen Theaterevents in dieser Nacht zumindest nur schlecht schlafen, was jedoch lediglich eine direkte Reflexion der Abgründigkeit und Eindrücklichkeit der Inszenierung ist.
Nach über 1000 Seiten Text jetzt auch noch 8h Theater 😀 ? Vielleicht interessiert es die Leser ja: Ich habe vor längerem mal Versucht, den Roman ein wenig zu ordnen… : https://postmondaen.net/2016/01/31/2666-meisterwerk-schwarzes-loch/