Tibet is burning

Marvin Litwak: Pawo

Was muss geschehen, damit ein Mensch sich selbst verbrennt? Marvin Litwaks auf einer wahren Begebenheit beruhender Debütfilm Pawo schildert in eindrucksvoll tiefgründiger Weise den Kampf eines jungen Tibeters für seine Freiheit. Ein eindringliches Kinoerlebnis.

von ALINA WOLSKI

 

Als Kind lebt Dorjee in einem kleinen Dorf in Tibet. Seine verhältnismäßig unbekümmerte Kindheit wird zunehmend durch die Unterdrückung der Tibeter von China eingeschränkt. Je älter er wird, desto stärker fallen ihm die Repressionen auf. Schon sein Vater versuchte, die chinesischen Truppen beim Einmarsch nach Tibet zu hindern. Er überlebte zwar das Zwangslager, starb jedoch nach seiner Entlassung an den Folgen der Gewalt. Im Jahr 2008 versuchen Tibeter zur Zeit der Olympischen Spiele in Peking, durch Proteste die Aufmerksamkeit der Welt zu erlangen. Vom gewaltvoll niedergeschlagenen Aufstand der Tibeter erfährt Dorjee durch das Fernsehen und verlässt seine bis dahin passive Position. Er schließt sich den Demonstrationen an. Daraufhin wird er verhaftet und in der Haft psychisch und physisch gefoltert. Nach der Entlassung aus der Haft bleibt für Dorjee kein anderer Weg übrig, als Tibet zu verlassen.

Heimatlose Freiheit

Der Film lebt von seinen atmosphärischen Bildern. Sie brennen sich so stark ins Gedächtnis, dass sie tiefgründige Ausführungen über die Bedeutung von Heimat und Freiheit ersetzen. Die Weite des Landes gepaart mit den düsteren Momenten der Unterdrückung verdeutlichen in vollster Stärke den Zwiespalt, mit dem sich die Tibeter im Film konfrontiert sehen: Sie sind auf fatalistische Weise heimatlos. Zwar besitzen sie eine räumliche Heimat, doch diese wird ihnen zunehmend entzogen. Aus diesem Grund wandern viele Tibeter aus, um sich den Traum zu erfüllen, woanders in Selbstbestimmung leben zu können.

Für Dorjee hingegen ist es kein Traum, seine Heimat zu verlassen. Er wird dazu gezwungen. Denn seit seinem halbjährigen Gefängnisaufenthalt gilt er als gesuchter Krimineller. Nach einer spektakulären und gefährlichen Flucht über den Himalaya nach Indien kommt Dorjee bei Verwandten in Neu-Delhi unter. Doch das Leben dort erfüllt ihn nicht. In den ärmlichen Verhältnissen, in denen er haust, verbringen seine Mitbewohner die Zeit damit, sich abzulenken: Sie schauen fern, gehen feiern und haben Spaß.

Doch das ist keine Option für Dorjee. Er sieht sich in der Pflicht, gerade nach den schlimmen Repressionen, die seine Familie und sein Land miterlebt haben, für seine Heimat einzustehen. Aus seiner Perspektive gibt es für ihn keine andere Möglichkeit, als sich selbst während des Besuchs des chinesischen Ministerpräsidenten zu verbrennen, um seinen Protest kundzutun, wie es bis jetzt schon über 150 Personen seit 1998 getan haben.

„Tausende andere Regisseure können diese Geschichte auch erzählen“

Doch warum erzählt der Deutsche Marvin Litwak, ohne offensichtlichen persönlichen Bezug zu Tibet, China oder Asien, als junger Regisseur in seinem ersten Film gerade diese Geschichte? Der Spiegel-Artikel Die letzten 50 Meter von Dalinka Neufeldt, in dem sie Jamphel Yeshis Entscheidung, sich aus Protest selbst zu verbrennen, thematisiert, war der Auslöser für Litwaks Handeln: „Jetzt saß ich da, las die eindrucksvolle Lebensgeschichte von Jamphel, dem Leiden in Tibet und dem unendlichen Protestkampf der Exiltibeter. Warum sollte ich die Geschichte erzählen? Ich bin doch nur ein junger deutscher Filmemacher, der noch nicht mal sein Debüt gemacht hat. Tausende andere Regisseure können diese Geschichte auch erzählen, aber bislang hat es noch niemand getan.“

Komplett durch eigene Mittel und Spenden finanziert, wagt er diesen Schritt. So sind die Schauspieler größtenteils Laien, die direkt von der Straße an den Drehorten gecastet wurden. Doch wüsste man das nicht, fiele dies in keiner Weise auf. Gerade Emotionen vermitteln die Darsteller glaubhaft und stark. Dies mag zusätzlich an der Tatsache liegen, dass die meisten ein ähnliches Schicksal wie das im Film erzählte mit sich tragen. Somit können sich die Schauspieler sehr gut mit der Geschichte identifizieren. Lediglich die deutschen Synchronstimmen wirken in einigen Situationen unauthentisch, unpassend oder emotionslos. So wäre es authentischer gewesen, Pawo in der Originalsprache Tibetisch zu belassen und mit Untertiteln zu versehen, wie zu Beginn geplant.

Neben wunderschönen, aber zum Teil auch grausamen sowie bedrückenden Bildaufnahmen, atmosphärischer Filmmusik und einer stringenten Handlung überzeugt der Film dadurch, dass er dem Zuschauer keine fertige Meinung aufdrückt. Litwak lässt die Figuren unterschiedliche Standpunkte verkörpern und ermöglicht so die Herausbildung einer eigenen Ansicht. Das macht Pawo zugleich zu einem tiefgründigen Film, dessen Verarbeitung einiger Zeit bedarf. Doch seine Intention erreicht den Zuschauer in jedem Fall: „Wir wollen den Fokus auf die heutige tibetische Gesellschaft legen, zeigen wo die Konflikte herrschen, wenn man heimatlos aufwächst. Wir wollen zeigen, dass die Menschen selbst über ein halbes Jahrhundert später noch immer für ihre Freiheit schreien, kämpfen und sich immer weiter selbst verbrennen.“

 

Pawo (2016). Regie: Marvin Litwak. Darsteller: „Shavo“ Dorjee, Rinchen Plazom, Tenzin Gyaltsen, Tashi Choedon. Laufzeit: 117 Minuten. Kinotermine: https://pawomovie.com/termine

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