Mit ihrer nun erstmals auf Deutsch übersetzten Novelle Ich fahre nach Madrid verdeutlicht Naira Gelaschwili durch einfache Mittel und zugleich auf eindrückliche Weise den Wert der Fantasie. Sie präsentiert ein sprachliches Gemälde, das zum Mitträumen einlädt.
von ALINA WOLSKI
Tiflis zur Zeit der Sowjetunion. Sandro Litscheli ist ein Träumer. Er träumt davon, pazifische Inseln zu durchwandern, leichtfüßig durch die Straßen Madrids zu laufen. Er träumt von der fernen Welt, die er wahrscheinlich nie sehen wird. Denn selbst wenn Sandro eine Ausreisegenehmigung erhielte, fehlte ihm immer noch das nötige Geld. Somit ist seine Fantasie der einzige Ort, an dem seine Reise stattfinden kann. Doch eines Tages hält er es nicht länger aus, parallel zu diesen Träumen ein alltägliches Leben mit Büroalltag zu führen. Kurzerhand erzählt er seinen Freunden, Verwandten und Mitarbeitern, er fahre nach Sochumi, Kutaissi und Madrid. Jeder bekommt eine andere Geschichte serviert. Nichts davon stimmt. Stattdessen flüchtet sich Sandro in ein Tifliser Krankenhaus, wo ihm dessen Leiter, ein ehemaliger Schulfreund, ein Zimmer für zwei Wochen zur Verfügung stellt. Diese Zeit nutzt er, um der Realität zu entfliehen und sich seinen Gedankenreisen hinzugeben.
Das Funkeln der Sterne
Warum Sandro Litscheli Tiflis verlassen möchte, weiß er nicht. Tatsächlich hinterfragt er diesen Wunsch gar nicht. Die pazifischen Inseln wählt er nach dem Klang ihrer Namen aus, ohne sich jemals mit ihrer Geografie oder den dortigen Besonderheiten auseinandergesetzt zu haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass er seine Heimat Georgien nicht wertschätzt: „Denn, wie bekannt, liegt es im Wesen des Menschen, sich nicht mit dem Erreichten und Errungenen zufrieden zu geben. […] Für den einen kann es [das Ferne] ferne Länder bedeuten, für einen anderen ferne Sterne oder wie Sterne funkelnde ferne Ziele, für einen weiteren aber könnte das Ferne unsichtbare Welten sein. Was aber Sandro Litscheli betrifft, so sah für ihn dieses Ferne wie Spanien, der Ozean und die Inseln aus.“
Naira Gelaschwili ermöglicht dem Leser, ihren Protagonisten auf der Reise in das Reich der Fantasie und der Freiheit zu begleiten. Unterschwellig schwingen beständig zwei Arten des Eingesperrtseins mit: zum einen die durch Grenzen begründete Gefangenheit und zum anderen die Ketten der alltäglichen Pflichten. Von letzterem befreit sich Sandro zeitweise, indem er sich zwei Wochen Urlaub nimmt. Doch die Landesgrenzen zu überschreiten, gelingt ihm nicht. Er versucht es nicht einmal, da er es im Vorhinein schon für unmöglich hält. Somit darf der Leser an seiner stattdessen stattfindenden Flucht in die utopische Welt seines Geistes teilhaben, in der jeder das Gut der Freiheit kosten darf.
Pinselstriche und Farbpaletten
Obwohl Ich fahre nach Madrid klare Bezüge zur Sowjetunion aufweist, ist die Novelle aus heutiger Perspektive nicht anachronistisch, sondern immer noch aktuell. So gelingt es Sandro, aus dem Karussell der Alltäglichkeit auszusteigen und seinen Träumen Raum zu geben. Er hört auf, nur für die Arbeit und die gesellschaftliche Anerkennung zu leben, bis die Welt der Fantasie ihn schließlich überwächst.
Diesen Prozess schildert die Autorin auf liebevolle Weise. So schafft sie es, dass der Leser den naiven Helden in sein Herz schließt. Obwohl er weder sonderlich intelligent noch erfolgreich ist, besitzt Sandro etwas Erstrebenswertes: die Fähigkeit zu träumen. Zugleich wirkt er sehr melancholisch und hoffnungslos. Sandro identifiziert sich mit zwei Versen aus einem Gedicht von Murió Al Amancer: „El manatial besa al viento sin tocarlo…“ – „Der Springbrunnen küsst den Wind, ohne ihn zu berühren…“ Diese zwiegespaltene Atmosphäre, die Unfähigkeit, seinen Traum zu ergreifen, schwingt beständig in der Novelle mit. Ich fahre nach Madrid ähnelt einem sprachlichen Gemälde aus der Zeit der Romantik, das zwar wunderschön ist und träumen lässt, aber zugleich auch das Gefühl der Wehleidigkeit und Sehnsucht hinterlässt. Dieses Bild zeichnet Naira Gelaschwili mit einfachen Mitteln durch metaphorische Formulierungen und elegante Beschreibungen. Jeder Pinselstrich sitzt perfekt. Die Palette ist breit gefächert: angefangen beim Humor, über Retrospektiven und Melancholie bis hin zur Absurdität. Geht man nun als Betrachter einen Schritt zurück, um das Kunstwerk auf sich wirken zu lassen, so erblickt man ein Plädoyer für die Freiheit, die Fantasie und einen Affront gegen jegliche Art der Totalität.
Ob der Leser schließlich nach der Lektüre lieber nach Madrid oder doch nach Tiflis reisen möchte, ist die offenbleibende Frage der Novelle.