
Sven Regener – Wiener Straße Cover: Galiani Berlin
November 1980 in Berlin-Kreuzberg: Noch sprechen ihn alle mit seinem Vornamen Frank an. Bis er als Herr Lehmann bekannt sein wird, werden noch einige Jahre vergehen. Doch jetzt muss er sich erst einmal seinen Platz zwischen Kneipen, Künstlern und Hausbesetzern suchen. Ob er ihn auf der Wiener Straße finden wird? Zum mittlerweile vierten Mal schreibt Sven Regener über seinen liebenswürdigen Antihelden und dessen Weg zu sich selbst.
von GREGOR J. REHMER
„Wird Zeit, daß ich rauskomme aus der Touristenscheiße hier.“ Am Ende des dritten Bandes der Herr Lehmann-Reihe (Der kleine Bruder, 2008) wollte Frank weg vom Trubel des Kudamms, der Hektik der Einkaufsstraßen, dem Berlin der Urlauber. Verschlagen hat es ihn auf die Wiener Straße, im Osten Kreuzbergs und nahe der Berliner Mauer, wo Kneipenbesitzer Erwin eine Wohnung für Frank, Nichte Chrissie sowie die Künstler Karl Schmidt und H.R. Ledigt besorgt hat. Diese liegt direkt über dem Café Einfall, in dem nicht nur die WG-Bewohner zusammenkommen, sondern auch die Pseudo-Hausbesetzer von der ArschArt-Galerie, der Kontaktbereichsbeamte, Chrissies Mutter und der Sozialarbeiter vom Artschlag.
Vor wenigen Tagen noch war Frank Lehmann Wehrdienstleistender in seiner Heimatstadt Bremen. Vorzeitig aus der Bundeswehr entlassen, packt er seine Sachen und beschließt, seinen Bruder Manfred in Berlin zu besuchen, oder besser: zu suchen. Manfred ist verschwunden, und so muss Frank mit dessen Freunden und Mitbewohnern zurechtkommen, bis er den großen Bruder schließlich am Kudamm findet. Auf diese Vorgeschichte von Frank Lehmann, die in Neue Vahr Süd (2004) und Der kleine Bruder erzählt wurde, kommt Sven Regeners neuer Roman Wiener Straße zwar nicht mehr zu sprechen, schließt aber nahtlos an sie an. Die Lücke bis zu den Geschehnissen des ersten Bandes der Reihe – Herr Lehmann (2001) – wird damit allerdings noch nicht geschlossen. Stattdessen wird den Lesern lediglich ein kurzer Einblick in Franks Leben gewährt: Die Handlung des neuen Romans erstreckt sich über nur wenige Tage.
Plotlos in Berlin
Statt sich – wie in den übrigen Romanen – hauptsächlich auf Frank Lehmann zu konzentrieren, richtet Wiener Straße den Blick stärker auf die Menschen in dessen Umgebung. Richtig viel passiert da allerdings nicht. Kneipenbesitzer Erwin erwartet ein Kind von seiner Freundin und schnallt sich einen Mitfühlbauch um. Seine Nichte Chrissie bekommt einen Job im Café Einfall und verkauft selbstverbrannten Kuchen. Ihre Mutter kommt zu Besuch und verkauft unverbrannten Kuchen. Pseudo-Hausbesetzer P.Immel und seine Künstler-Truppe von der ArschArt-Galerie lassen sich für das Fernsehen filmen und wollen einen ehemaligen Friseurladen – bekannt für die Intimfrisuren – in eine Kneipe verwandeln. H.R. Ledigt – mit Grabgabel und Kettensäge bewaffnet – sägt Bäume um. Im Artschlag findet eine Vernissage statt, an der Karl Schmidt, H.R. Ledigt und die ArschArt-Leute teilnehmen. Der Kontaktbereichsbeamte stellt Fragen. Und Frank Lehmann renoviert die neue Wohnung, wird Putzmann im Einschlag und Weinverkäufer bei der Vernissage.
Immer wieder treffen die einzelnen Akteure in unterschiedlichen Konstellationen aufeinander, führen mal mehr, mal weniger sinnvolle Gespräche, denken ganz viel nach, reden noch ein bisschen aneinander vorbei und denken erneut.
Mikrokosmos Kreuzberg
Aber die Handlung steht auch in den anderen Lehmann-Romanen selten im Mittelpunkt. Vielmehr geht es Regener darum, Menschen zu erzählen und ein bestimmtes Milieu zu charakterisieren. In Wiener Straße konzentriert er sich dabei einerseits auf die Zugezogenen, die Nicht-Berliner, die im Kreuzberg der frühen 1980er Jahre ihr Zuhause und Glück finden wollen und feststellen müssen, dass dies alles andere als einfach ist, weil auch hier erst einmal der eigene Platz gefunden werden muss. Andererseits wirft der Roman einen Blick auf eine Künstlerszene, in der Selbstinszenierung und Künstler-Gestus genauso wichtig sind wie die Kunstwerke selbst. Durch die Plotlosigkeit des Romans werden die Mitglieder beider – sich durchaus auch überlappender – Gruppen als Träumer entlarvt. Ihr Sein besteht aus viel Schein; Reden und Nachdenken sind wichtiger als Handeln. Ob Regener hier aus eigener Erfahrung schreibt und ein Kreuzberg zeichnet, wie er es selbst kennengelernt hat, können wohl nur die Menschen entscheiden, die damals vor Ort und Stelle waren.
Frank Lehmann jedenfalls ist noch nicht Teil dieser Gruppen. Noch beobachtet er sie. Noch packt er Dinge an. Noch handelt er lieber, als darüber nachzudenken oder zu reden. Wer aber den ersten Band der Lehmann-Reihe kennt – der zeitlich nach den folgenden dreien spielt –, weiß, dass auch Frank bald zu ihnen gehören wird. Der Roman entwirft also das Milieu, in dem Frank in einigen Jahren zu Herr Lehmann wird und mit dem er sich ziellos und gleichgültig zufrieden geben wird.
Klassischer Lehmann ohne Lehmann
Lesern, die bisher noch kein Lehmann-Buch in der Hand gehalten haben, ist Wiener Straße nur bedingt zu empfehlen. Der Roman lässt sich zwar auch ohne Vorkenntnisse gut lesen und verstehen, würde aber zum Schluss ein unbefriedigendes „Und nun?“ hinterlassen, wenn weder Vor- noch Nachgeschichte bekannt sind.
Fans der Lehmann-Reihe werden vom vierten Band vielleicht etwas enttäuscht sein. Frank spielt eine viel zu kleine Rolle, ist eher Nebendarsteller und Figur im Hintergrund. Zu wenig erfahren die Leser über ihn, und in keinem anderen der Teile bleibt er so blass und konturlos. Die erste Anstellung bei Kneipenbesitzer Erwin und eine kurze Unterhaltung mit Karl am Ende des Romans bringen ihn zwar auf die Spur seines zukünftigen Ichs, aber es fehlen Hinweise darauf, wie oder warum er sich zu dem Herrn Lehmann entwickelt, der er beim Fall der Mauer sein wird. Ein bisschen mehr Herr Lehmann hätte hier gutgetan.
Freunde von Regeners Schreibstil werden sicherlich auch an Wiener Straße ihren Spaß haben. Kaum jemand kann so wunderbar höchst philosophisch anmutende, aber doch häufig sinnentleerte Dialoge und so planlos umherirrende, verschachtelte Gedankengänge schreiben wie er. Freude machen diese nicht nur wegen des Inhalts, sondern vor allem auch wegen des ganz besonderen Klangs, der schon in den anderen drei Lehmann-Romanen zu begeistern wusste.
Trotz der Schwächen des Romans bleibt zu hoffen, dass Regener noch einmal zu Frank Lehmann zurückkehren wird. Wiener Straße hat zwar nicht viele der offenen Fragen zu Frank und seinem Leben in Berlin beantwortet, macht aber dennoch neugierig auf mehr.
Sven Regener: Wiener Straße
Galiani Berlin, 304 Seiten
Preis: 22 Euro
ISBN: 978-3-86971-136-2