
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore – Eine Metapher wandelt sich Cover: Dumont
Nachdem der erste Band bereits Anfang des Jahres erschienen ist, ist seit Mitte April auch der zweite und letzte Band von Haruki Murakamis Künstlerroman Die Ermordung des Commendatore auf Deutsch erhältlich. Böse Zungen würden behaupten, dass das auch das Einzige ist, was sich über den zweiten Band sagen lässt. Das ist nicht ganz richtig. Allerdings stimmt es, dass die Erzählung den Schwung aus seinem Vorgängerband nicht aufrechterhalten kann.
von CAROLIN KAISER
Der zweite Band fängt da an, wo der erste Band aufgehört hat: Unser namenloser Künstlerprotagonist wohnt immer noch in einer kleinen Hütte mitten in den Bergen, sein stinkreicher Nachbar Menshiki ist immer noch mysteriös, und merkwürdige Dinge übernatürlicher Natur sind immer noch Teil seines alltäglichen Lebens. Wer angesichts der letzten Sätze von Band 1 („Und der Sonntag stand bevor. An ihm würde vieles geschehen. Es sollte ein sehr aufregender Sonntag werden.“) gehofft hat, dass es in Band 2 direkt mit Handlungs-Höchstgeschwindigkeit weitergeht, sollte seine Erwartungen zügeln. Es sollte nämlich nur ein mäßig aufregender Sonntag werden. Das gilt überhaupt für die ersten 100, 150 Seiten. So wirklich passiert eigentlich nichts. Lieber unterhält man sich ausgiebig über alte Jaguar-Modelle. Hier und da trifft man zwar auf ein paar Informationsfetzen über die Figuren, aber im Grunde plätschert alles nur ganz entspannt vor sich hin. Stressaffinen Menschen, die schon eine Resistenz gegen Baldrian aufgebaut haben, empfehle ich dieses erste Drittel wärmstens: Fünf Sätze und die Tiefenentspannung setzt ein. Und das ist keineswegs zynisch gemeint: Es ist wirklich entspannend, nicht einfach nur langweilig und handlungsarm. Man kann es sich in der Sonne gemütlich machen und sein Murakami-Bingo ausfüllen: Der Protagonist liest Dostojewski, Small Talk über Musik, die Figur klingt wie ein Wikipedia-Artikel, Small Talk über Musik, der Protagonist besucht einen dementen alten Mann in einem Altenheim, und dann krabbelt unser Protagonist durch ein dunkles Loch, um durch eine magische Parallelwelt zu wandern, die wahrscheinlich enorm symbolisch, aber leider stinklangweilig ist. Paradoxerweise hat der Roman – zumindest für mich, abweichende Meinungen sind hier garantiert – einen nicht zu unterschätzenden Teil seines Reizes verloren, wenn tatsächlich so etwas wie eine Spannung aufbauende Handlung einsetzt. Dem Protagonisten dabei zuzusehen, wie er durch eine Wüste wandert, ist nicht gerade spannend. Da höre ich mir lieber noch drei Seiten Schwärmerei über den Jaguar XJ6 mit doppelten Rundscheinwerfern und 4,2-Liter-Sechszylinder an. Zumindest, wenn Murakami sie schreibt.
Bums, Ende, Zauber verflogen
Das Hauptproblem an diesem Magische-Welt-Intermezzo ist nicht nur, dass dort nichts Interessantes passiert, sondern dass es sich nicht wirklich überzeugend in den weiteren Verlauf des Romans und dessen Ende fügt. In Anbetracht der Tatsache, dass der Roman dem Leser das Gefühl vermittelt, hier handele es sich um einen wichtigen Schlüsselmoment, ist es enttäuschend, dass die Episode nicht nur ereignislos, sondern auch folgen- und vor allen Dingen erkenntnislos bleibt. Neue Einblicke oder Perspektiven auf Handlung, Welt und Figuren des Romans erhält der Leser nicht. Überhaupt verschwinden die Magie und das Mysteriöse des Romans auf den letzten 100 Seiten sehr plötzlich. Auf einmal ist alles vorbei und wir sind genauso schlau wie am Anfang des zweiten Bandes. Doch statt davon zu profitieren, seine Geheimnisse nicht zu verraten und so über die letzte Seite hinaus beim Leser ein angenehm-kribbelndes Gefühl von Ungewissheit zu erzeugen, fühlt sich der Roman hier einfach nur billig an. Irgendwie ist am Ende alles so schrecklich alltäglich und offensichtlich. Ehe man es mitbekommt, ist die Haupthandlung auch schon zu Ende und wir befinden uns im Epilog.
Hey! Wo ist meine Auflösung?
Offenbleibende Fragen sind ja an sich nichts Schlechtes, aber man bekommt in diesem Roman das Gefühl, dass viele Dinge einfach nur Teil der Geschichte sind, um ein Spannungselement einzufügen, das letztlich nie aufgelöst wird. Bestes Beispiel: der Prolog aus dem ersten Band. Der Protagonist wird – offensichtlich einige Jahre nach dem Zeitpunkt, an dem der Roman anfängt – von einem gesichtslosen Mann erpresst. Entweder der Künstler porträtiert ihn oder seiner Familie geschieht etwas. Der Prolog ist so geschrieben, dass man als Leser glaubt, im Verlauf der beiden Bände wird die Haupthandlung irgendwann zu diesem Punkt gelangen. Allerdings wartet man vergebens. Innerhalb des zweiten Bandes taucht dieser gesichtslose Mann genau einmal auf. Dabei wirkt er deutlich weniger bedrohlich und spielt lediglich darauf an, dass er möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt einmal von dem Protagonisten porträtiert werden möchte.
Ansonsten wird dieser Prolog nicht weiter mit den Geschehnissen in den beiden Bänden in Bezug gesetzt. Als Leser fühlt man sich in seiner Erwartungshaltung ausgenutzt. Der Prolog suggeriert nämlich eindeutig, dass da storytechnisch noch was kommt („Vielleicht würde es mir eines Tages gelingen, das Nichts zu porträtieren. […] Doch dazu brauchte ich Zeit. Ich musste die Zeit zu meiner Verbündeten machen.“). Heißt das, dass Murakami diese Geschichte irgendwann nochmal in einem neuen Roman aufgreifen wird? Oder hat Murakami diese Prolepse nur benutzt, um auf ganz simple Art Spannung für seinen 900-Seiten-Roman zu erzeugen? Oder ist es irgendwie ein verschrobener Kommentar zur Erwartungshaltung des Rezipienten im Zeitalter des Cliffhangers? Man weiß es nicht so genau. Was sich jedoch sagen lässt, ist, dass Murakami mit den beiden Bänden von Die Ermordung des Commendatore sein literarisches Werk nicht neu erfindet. Wer Murakami vorher schon mochte, wird an seinem neusten Werk auch seinen Spaß haben. Ebenso wird derjenige, der bisher nichts mit Murakami anfangen konnte, es nach diesem Roman höchstwahrscheinlich auch nicht können. Um Kritiker seines Werkes umstimmen zu können, hat Murakami sich zu sehr auf Altbekanntes zurückfallen lassen.