
Kurt Marti: wo chiemte mer hi? sämtlechi gedicht ir bärner umgangsschprach Cover: Nagel & Kimche
Ein Jahr nach Kurt Martis Tod ist mit wo chiemte mer hi? die erste vollständige umgangssprachliche Gedichtsammlung des Berners erschienen. Moderne Lyrik in Mundart: Dieses Projekt kommt einer kleinen Revolution der Schweizer Literaturszene gleich – und trifft über 50 Jahre nach seiner ersten Publikation zumindest sprachlich nach wie vor den Zahn der Zeit.
von THOMAS STÖCK
Bereits Nobelpreisträger Thomas Mann versah seinen ersten Roman Buddenbrooks mit zahlreichen Dialekten, die gleichberechtigt an die Seite des Schriftdeutschen und weiterer Sprachen treten und so der Vielstimmigkeit im Werk des Naturalisten Mann Nachdruck verleihen. Dialekte dienen jedoch nicht bloß der Authentifikation, sie beherbergen ganz eigene ästhetische Nuancen, die der Hochsprache abgehen. Nichtsdestotrotz war Kurt Martis Dialektlyrik 1967 eine kleine Revolution für die Schweizer Literaturlandschaft, denn: „Die Röseli- und Gemüsegartenmissverständnisse, die Küsschenschämigkeiten und die Scheiden-tut-weh-Schleichereien: der ganze Trauerwonnezauber […] – es ist überwunden.“ Mit einem Schlag ist die Schweizer Mundart wieder modern – nun ja, nicht ganz auf einen Schlag. Marti reicherte sein Œuvre bereits seit 1960 um dialektdichterische Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften an, wodurch er erstmals Aufmerksamkeit erregte. In „bärner umgangsschprach“ erschienen fortan ein Teil seiner Verse oder die Übertragungen seiner literarischen Weggefährten. Einleitende Anmerkungen à la „nach em boris vian“ oder „nach em paul éluard“ zieren denn auch in diesem Band an so mancher Stelle das kunterbunte Konglomerat an Gedichten.
Konkrete Ästhetik
Als ein Vorläufer Martis ist die „Konkrete Poesie“ Eugen Gomringers anzuführen, dessen Gedicht avenidas zuletzt für Schlagzeilen sorgte. Die augenfälligste Gemeinsamkeit zwischen den beiden Poeten ist die permanente Kleinschreibung. Ansonsten variiert Marti seinen freien Vers stark – mal eröffnen sich Martis Ideen tröpfchenweise, ein Wort je Vers (doxologie oder auch kabbalistik), dann wieder bricht sich ein Wortfluss Bahn, dass die Gedankengänge einen förmlich überfluten (z. b. 11.9.72 und andere Gedichte aus den tagebuech). Eine ähnliche Variation nimmt Marti auch bei der Länge seiner Gedichte vor. Ob Versquartett und einsame Strophe oder dichtgedrängte Masse aus Worten, die Seite an Seite kitten und nur durch wenige Satzzeichen unterbrochen werden – ein Gedanke endet eben da, wo er endet. Durchdrungen ist dieses Netz aus ungleichen Maschen von einer Polyfonie, wie sie am ehesten in der Schweiz denkbar ist: Das Schwyzerdütsch in seiner Berner Dialektform wird angereichert um lateinische und italienische, französische und englische Stimmen. Befördert wird diese Verfahrensweise durch die zahlreichen namentlich genannten Künstler, die Marti in sein Werk integriert – als Sprechende und als Besprochene.
grani was?
So unstet und sprunghaft wie sein Stil, so vielfältig sind auch die Themen, derer sich Marti annimmt. Besonders passend sind natürlich die Reminiszenzen auf Lokales. Der Berner Graniummärit (Geranienmarkt) erhält sein eigenes Gedicht (granium – märit), in dem sich alles um die „grani“ dreht. Gleiches gilt für den Aletschwald im Schweizer Kanton Wallis (im aletschwald). So kann es denn auch nicht verwundern, dass dem Bereich heimatkund insgesamt 16 Gedichte zugeordnet werden. An einigen Stellen sollte man die Gedichte besser durch einen Blick in die nächstbeste Enzyklopädie kontextualisieren. Die ungewöhnlich hohe Zahl an Geranien in nur wenigen Versen könnte sonst Verwirrung stiften.
Dem Lokalen verleiht Marti mitunter Züge des Globalen. 8 x vietbärn verlegt Mekong und Napalm in die Schweizer Hauptstadt; und dass ein Gedicht mit dem Namen beliebig aawändbar uf verschideni touristischi zäntre ebendiesem gerecht wird, kann wohl kaum überraschen. Die thematischen Wanderungen passen sich Martis Alltag an. Ein kohärentes inhaltliches Sujet seiner Dichtung ist allenfalls, seine Weltsicht mit moralischen Komponenten zu durchsetzen, da er als Pfarrer aktiv war. In dieser Funktion konnte er seine Predigten in Mundart über- und vortragen – ein Schlüsselerlebnis, welches seine Poetik prägte.
Bereicherung durch Integration – Martis Sprachphilosophie
Über ebendiese Poetik legt Marti im vorliegenden Band selbst Rechenschaft ab. Seine Sechs Thesen aus dem Handgelenk zur Situation der bernischen Mundartliteratur veranschaulichen das Dilemma, vor dem die Schweizer Mundartdichtung in den 60er Jahren stand:
„Die Bevölkerungsbewegung und -vermischung innerhalb der Schweiz verschleift […] die berndeutschen Mundarten zunehmend mit anderen schweizerischen Mundarten. Dazu kommt die Infiltration unserer Sprache durch fremde Wörter und Syntaxformen […]. Da diese Entwicklung unumkehrbar ist, schlage ich vor, sie nicht länger und vergeblich als Verarmung der Mundart der bisher gesprochenen Mundart zu beklagen, sondern sie als Möglichkeit unabsehbarer Bereicherung der bisher gesprochenen Mundart und Mundartliteratur zu verstehen und zu nützen.“
Analog zu der „Verschleifung der Mundarten“ verflüchtigen sich die Kenntnisse der Mundarten bei den jüngeren Generationen. Wie die Mundarten von der Hochsprache und den Fremdsprachen profitieren, so sollte die Hochsprache selbst die Blüten der Mundarten in den ‚heimischen‘ Garten integrieren und die Vielfalt aufgehen lassen. Denn „wo chiemte mer hi“, wenn die Mundarten keine Münder mehr hätten, die sie formen könnten?
Ist es nicht ohnehin von Vorteil, dass bei Gedichten eine bereits sprachlich manifeste Grenze wie bei fremddialektischen Gedichten dem Leser aufzeigt, dass er für das Verständnis der Verse mehr Zeit aufwenden muss als einen flüchtigen Blick? Und profitiert nicht gerade die lyrische Textgattung vom oralsprachlichen Charakter der Mundarten, weil man durch sie angehalten wird, sie auszusprechen? Genau hierin ist die wohl größte und gleichzeitig so offensichtliche Leistung der Mundartdichtung zu sehen: Sie vereint, was ohnehin zusammengehört. Marti, ausgezeichnet mit dem Kurt-Tucholsky-Preis (1997) und dem Karl-Barth-Preis (2001), hat diese Erkenntnis in die Schweizer Literaturlandschaft hineingetragen und so der Mundart zumindest ihr eigenes Nischendasein geschaffen. Im Garten der hochdeutschen Sprache haben Martis Gedichte sicherlich ihren eigenen festen Platz – und schon von Weitem erkennt man sie an den in ihrer Blüte stehenden Geranien.
Kurt Marti: wo chiemte mer hi? sämtlechi gedicht ir bärner umgangssprach. Herausgegeben von Andreas Mauz. Mit einem Nachwort von Guy Krneta
Nagel & Kimche, 208 Seiten
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-312-01061-5