Im Bardo ist die Hölle los

George Saunders: Lincoln im Bardo Cover: Luchterhand

George Saunders: Lincoln im Bardo Cover: Luchterhand

Es ist die Nacht, in der Willie Lincoln, der elfjährige Sohn des Präsidenten, stirbt. Bei George Saunders wird in Lincoln im Bardo daraus ein Meisterwerk, das ‚Berührung‘ neu erfindet.

von SIMONE SAUER-KRETSCHMER

Der amerikanische Schriftsteller George Saunders hat mit seinem Debütroman, der als Lincoln im Bardo auf Deutsch erschienen ist, 2017 den britischen Man Booker Prize gewonnen. Das klingt beeindruckend, doch was macht das Buch so besonders gut? Der Roman ist ein Nachtstück, und die Orte, an denen er spielt, sind ebenso ungewöhnlich wie eindringlich dargestellt: das Weiße Haus während der Präsidentschaft Abraham Lincolns, das Sterbezimmer eines kleinen Jungen und seine vermeintlich letzte Ruhestätte, der Friedhof. Denn in einer gewittrigen, nein wolkenlos klaren (oder war es doch in einer stürmischen?) Nacht erliegt Willie Lincoln mit elf Jahren seiner Krankheit. Drinnen, im Festsaal des Weißen Hauses, empfangen seine Eltern gerade alles, was in Washington Rang und Namen hat, obwohl überall sonst Kampf, Zerstörung und Chaos wüten: Der amerikanische Bürgerkrieg fordert seine Opfer, während Willie den Kampf gegen das Fieber verliert und aus der Ohnmacht der hilflosen Eltern tiefe Trauer werden lässt. Der Roman vermittelt ungewöhnliche Innen- wie Außenperspektiven und erschafft besonders durch die Vielstimmigkeit der auftretenden Figuren und die zahlreichen Zitate aus zeitgenössischen Schriftstücken sowie fiktiven ‚Quellen‘ eine Textcollage, die nicht nur davon erzählt, dass Willie Lincoln stirbt, sondern auch davon, wie es ist, tot zu bleiben.

Stimmen aus der „Kranken-Kiste“

Die, die hier zu Wort kommen, sind ihren „Kranken-Kisten“ noch einmal entstiegen und reden wild durcheinander, während dem Leser allmählich schwant, wie es um die Stimmen der Verzweifelten, die nicht hier oder dort sind, eigentlich bestellt ist. Um Abschied zu nehmen, taucht Abraham Lincoln in eine andere Welt ein und die Bewohner dieses Übergangsreiches, des Bardo, verbinden sich in ihm, dem Präsidenten, in seinen schwersten Stunden. Auch über die Trauer Lincolns erfährt der Leser nicht aus der Perspektive des Präsidenten, sondern nur durch die Beobachtungen anderer, die nicht fassen können, dass dieser Mann, der auf dem Boden der Gruft hockt, irgendwann von dort wieder wird aufstehen müssen, um ihr Land zu regieren.

Der 1958 geborene Saunders hat bisher vornehmlich Erzählungen und Essays sowie ein Kinderbuch geschrieben und setzt Lincoln im Bardo aus verschiedenen Textarten zusammen, sodass der Roman stilistisch durchaus experimentell ist. So ist es auch nicht möglich, von einer Handlung zu sprechen, die sich kurz zusammenfassen ließe, obwohl eine Vielzahl von Lebensgeschichten hier in Miniaturform Platz finden. Ehemalige Säufer, Soldaten und Sklaven kommen zu Wort und singen ihr Klagelied, das nicht einen einzigen moralisch verdammt. Der Roman erprobt die Darstellung eines Zustands und deutet die verschiedenen Möglichkeiten einer ganz entscheidenden Nacht in der Geschichte Amerikas an. Die Frage, was gewesen wäre, wenn diese Nacht einen anderen Ausgang gefunden hätte, stellt sich immer wieder, wenn man es schafft, sich daran zu erinnern, wer dieser Trauernde eigentlich ist, denn Saunders zeichnet Lincoln nicht in erster Linie als Staatsmann, sondern als Vater.

Im Bardo ist wortwörtlich die Hölle los, und es ist immer eine traurige Besonderheit, wenn Kinder dort erscheinen. Doch so einen Toten wie Willie Lincoln gab es dort noch nie, und so erzählt der Roman auch von den Lebensgeschichten vieler, die sich daran erinnern wollen, wer oder was sie einmal gewesen sind. Zusammengeführt von einem kleinen Jungen und der allermenschlichsten Unvernunft, geliebt zu haben, was enden muss.

 

George Saunders: Lincoln im Bardo. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert
Luchterhand München, 448 Seiten
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-630-87552-1

 

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