„Wir sind geboren, um frei zu sein“

"Freiheit in Krähwinkel" am Schauspielhaus Bochum Foto: Thomas Aurin

“Freiheit in Krähwinkel” am Schauspielhaus Bochum Foto: Thomas Aurin

Ein kleines Örtchen namens Krähwinkel soll der Schauplatz einer Revolution werden. Die letzte „große“ Inszenierung des Schauspielhauses Bochums wird zu einem selbstreflektierenden und vielschichtigen Abend, bei dem zurückgeschaut wird: auf die vergangene Spielzeit und auf alle Spielzeiten zuvor. Doch gleichzeitig wird nicht nur in der Vergangenheit verweilt, sondern auch überspitzt, grotesk und mit ein wenig Wehmut in die Zukunft geschaut: auf die neue Spielzeit unter neuer Intendanz mit neuem Ensemble und auf das, was noch kommen wird.

von KEVIN WANCKEL

In dieser Inszenierung (Regie: Milan Peschel) könnten die aufgegriffenen Themen nicht aktueller sein. Die Krähwinkler (gespielt vom gesamten Ensemble) kämpfen für ihre Freiheitsrechte: Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit. Ein deutlicher Bezug zur damaligen Zeit: Das Stück entstand 1848, zu einer Zeit, in der in ganz Europa Revolutionen entfacht wurden, auch in Österreich, der Heimat des Autors Johann Nestroy. Im Stück versucht der von Mark Oliver Bögel solide dargestellte, sehr am Eigenwohl interessierte Bürgermeister, den einschränkenden Zustand für die Bürger aufrechtzuerhalten und geht dabei so weit, eine für Krähwinkel bestimmte Freiheitsproklamation zu unterschlagen und die Bürger darüber im Unklaren zu lassen. So spitzt sich die Situation immer weiter zu und die Krähwinkler versuchen schließlich durch eine Revolution, ihrer geforderten Rechte Herr zu werden. Besonders hervorzuheben ist hierbei André Benndorff, der als Krähwinkler und Nachtwächter in überzeugender und authentischer Weise aus den Mitspielern heraussticht und das Publikum in seinen Bann und sein Denken hineinzieht.

Die Bühne (Nicole Timm) ist zunächst sehr minimalistisch und simpel gehalten, durch bemalte und bedruckte Wandkonstellationen, die zueinander verstellt werden, werden jedoch neue Räume geschaffen, die sich durch einfache Handgriffe verändern lassen und den Zuschauer überraschen. Die Motive der einzelnen Wandabschnitte sind hauptsächlich Ausschnitte aus alten Programmheftcovern, Spielzeitheften oder Theaterplakaten des Schauspielhauses, teilweise bis ins Jahre 1932 zurückreichend, wodurch die bloße Kulisse bereits Erinnerungen an früher weckt und Verweise auf die namhaften Intendanten des Schauspielhauses wie Claus Peymann und ihre künstlerischen Konzepte aufzeigt. Hervorstechend ist dabei ein Bild von Ulrich Wildgruber in seiner Rolle als Hamlet 1977, der unter dem damaligen Intendanten Peter Zadek zu einer renommierten Größe heranwuchs. Nicht nur die Vergangenheit, auch die Zukunft in Form der kommenden Intendanz von Johan Simons wird aufgegriffen, sodass immer wieder Anspielungen, wie die niederländische Sprache, Holzclogs oder eine als Frau Antje kostümierte Bettina Engelhardt, den Abend durchziehen und so auf seine kommende Intendanz am Schauspielhaus hindeuten.

"Freiheit in Krähwinkel" am Schauspielhaus Bochum Foto: Thomas Aurin

“Freiheit in Krähwinkel” am Schauspielhaus Bochum Foto: Thomas Aurin

„Was z’viel is, is z’viel.“

Auch die Kostüme (ebenfalls Nicole Timm) deuten häufig auf das Theater selbst hin. Die Kleidung der Krähwinkler ist relativ unspektakulär gehalten. Sie erinnern mit ihren Lederhosen und Hemden an Besucher eines bayerischen Gasthauses. Hervorstechend sind dabei die roten Zipfelmützen, die zu Beginn eher verharmlosend und beschwichtigend wirken, im Verlaufe der Revolution jedoch eher an das in selbiger vergossene Blut erinnern. Rot als Farbe scheint auch eines der zentralen Motive in dieser Inszenierung zu sein. Dies zeigt sich auch an einem weiteren Charakter: Ultra (von einer vielgestaltigen und überragenden Kristina Peters in roter Hose und weißer Bluse gespielt) ist ein revolutionärer Journalist, der durch sein Hineinschlüpfen in fremde Rollen wie die eines russischen Zaren oder eines hohen Ministers dem Bürgermeister und seinen engsten Beamten Informationen und Geheimnisse entlockt. Diese halten das Feuer der Krähwinkler am Lodern und bestätigen sie in ihrem Recht.

Ein weiteres Merkmal der Inszenierung ist das Herausfallen der Schauspieler aus ihren Rollen: Nicht Ultra, sondern Schauspielerin Kristina Peters spricht über die Kunst und das Schaffen der Schauspieler, den Unterschied zwischen einem freien und einem freischaffenden Schauspieler und stellt die Fragen „Was ist Theater?“ und „Worin liegt der Grund des Theatersterbens?“ Sie spielt also auch sich selbst und bildet so eine Brücke zwischen Bühne und Publikum, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Rolle und realer Person. Das Herausfallen wird durch den Einsatz von Licht (Denny Klein) und den abrupten Wechsel der Charakteristik von Mimik und Gestik begleitet, wodurch diese Szenen sehr abgehackt und eingeschoben wirken und sich schlecht in die gesamte Inszenierung eingliedern. Vor allem durch diese Wechsel wird deutlich, dass sich die Passagen, die auf Basis der Vorlage gespielt werden, sprachlich sehr nah am Original orientieren. Gleichzeitig ist bei den eingeschobenen Passagen eine gewisse Leichtigkeit, Unbekümmertheit und Ehrlichkeit zu spüren, wahrscheinlich gerade weil sich die Schauspieler aus ihren festen Rollen lösen können und – zumindest scheinbar – sie selbst sein können. Sie müssen sich hier nicht an Nestroys Vorlage orientieren, sondern an den von Regisseur und Ensemble selbst erarbeiteten Überschreibungen und zusätzlichen Ideen, die dem Stück hinzugefügt wurden, wie es Nestroy zu seiner Zeit schon bei seinen eigenen Stücken nach deren Fertigstellung getan hat. Auch dies scheint es für die Schauspieler einfacher zu machen, sich selbst dem Publikum zu präsentieren.

Neben diesen Wechseln zwischen Rolle und dem Selbst ist ein weiteres zentrales Motiv die Wiederholung, hier in Bezug auf die Spielweise und Darstellung von Situationen. So werden prägnante Sätze oder auch witzige Szenen häufig wiederholt. Diese Szenen, beispielsweise das Ausrutschen auf Kartoffelsalat mit Würstchen, sind teilweise so überspitzt und ausreizend wiederholt, dass sie beim Zuschauer eher in Desinteresse umschwenken. Nichtsdestotrotz spiegelt dieses Motiv den wiederkehrenden Alltag eines Theaters und Schauspielers wider: Spieltage, Inszenierungen, Spielzeiten und Intendanzen wiederholen sich, wie in einem immerwährenden Kreislauf aus Konstanz und Veränderung.

Eine Inszenierung als Denkmal

Auch der Begriff „Kunst“ wird aufgegriffen, der eine zentrale Rolle im Leben eines Schauspielers spielt. Denn gerade die Kunst ist es, die der Schauspieler hinterlässt – auf der Bühne, beim Publikum, für die Zeit. Schauspieler sind nicht nur Künstler, sie sind Kunst; Kunst, an die erinnert werden soll. Daher ist es nicht verwunderlich, dass während der Vorstellung gerade dieses Wort mit vielen Eimern Farbe auf eine riesige Leinwand gepinselt wird und dem Zuschauer somit lange im Gedächtnis bleibt. So fügt sich am Ende ein Dialog aller Beteiligten zusammen, jedoch nicht an Nestroy orientiert, sondern aus Zitaten und Anspielungen auf frühere Rollen der Schauspieler. Jeder hat etwas zu sagen. Jeder ist Schauspieler. Jeder ist Kunst. Und so kommt es, wie es kommen muss. Alle Krähwinkler, alle Schauspieler, versammeln sich für ein letztes Lied, das die Rollen inner- und außerhalb der Inszenierungen zusammenfasst: „Wir sind geboren, um frei zu sein!“

Die Inszenierung endet in einer Party, in die das applaudierende Publikum miteinbezogen wird. Es wird nicht nur für die Leistung der Schauspieler am heutigen Abend geklatscht, sondern für die gesamte Spielzeit und die gesamte Zeit am Schauspielhaus.

 

Informationen zur Vorstellung

 

Nächste Vorstellungen
Samstag, den 07. Juli 2018 (nur noch wenige Restkarten)
Samstag, den 14. Juli 2018 (ausverkauft)

 

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