„Gut“ oder „schlecht“ sind keine Kategorien, in die man den Roman Reise nach Karabach des Georgiers Aka Morchiladze einordnen kann. Vielmehr handelt es sich um ein derbes, nüchternes Werk mit Höhen und Tiefen, das von seiner Geschlossenheit lebt und besonders im Nachklang brilliert.
von ALINA WOLSKI
Tiflis 1992 im Bürgerkrieg. Das politische System ist im Umbruch. Der junge Georgier Gio fühlt sich genauso wie sein Land: zerrissen, hoffnungslos und resigniert. Die schönsten Wochen seines Lebens sind passé. In dieser Zeit hat er eine Beziehung mit der Prostituierten Jana geführt, ist mit ihr in den verschneiten Parks von Tiflis spazieren gegangen und hat sich eine gemeinsame Zukunft ausgemalt. Dieser Traum ist zerplatzt, denn sein Vater steht der unschicklichen Liebe zu einer Prostituierten im Weg. Doch die Erinnerungen an seine Freundin begleiten den Protagonisten den gesamten Romanverlauf. Sie lassen ihn in einem Moment gebrochen und melancholisch wirken, während er in der nächsten Situation durch sie an Kraft und Hoffnung zu gewinnen scheint.
Währenddessen überredet sein Kumpel Gogliko ihn dazu, mit Gios altem Lada nach Aserbaidschan zu fahren, um Drogen zu beschaffen. Morgens hin, abends zurück. Niemand soll etwas mitbekommen. Doch nichts läuft nach Plan: Die beiden Freunde verfahren sich und werden ausgerechnet im Kriegsgebiet Bergkarabach voneinander getrennt.
Der Leser begleitet Gio in ein kleines aserbaidschanisches Dorf im Grenzgebiet. Dort führt er ein scheinbar unbeschwertes Leben, spielt Billard, freundet sich mit einem einsamen Maler an und trinkt viel Wodka. Jedoch umtreiben ihn mit der Zeit Fragen nach dem Grund seines Aufenthalts: Beständig wird ihm versichert, er könne jederzeit gehen, wenn er wollte. Doch stimmt das wirklich? Oder wird er doch als Gefangener gehalten? Und wer ist der Verursacher des seltsamen Stöhnens im verschlossenen Schuppen?
Kein Krieg, sondern eine Genossenschaft
Doch neben diesen pragmatischen Fragen sieht sich Gio auch mit philosophischen Gedanken konfrontiert. Der Krieg belastet ihn. Wo er sich aufhält, wird meistens nicht gekämpft. Spürbar sind jedoch die Folgen. So behauptet Gio: „Es war kein Krieg, sondern Banditentum.“ An einer anderen Stelle beteuert er: „Das ist kein Krieg, sondern eine Genossenschaft.“ Die Bedeutung des Krieges wirklich zu greifen und zu erfassen, gelingt ihm nicht. Die Beschreibungen kreisen um diesen Begriff. Sie lassen den „Krieg“ sinnlos erscheinen, fast grundlos – und dennoch unabwendbar selbstverständlich. Es handelt sich um einen Zustand, mit dem sich alle abgefunden haben: wie das Bühnenbild einer Epoche, auf das zwar niemand achtet, aber ohne das die gesamte Geschichte ganz anders verliefe.
Der Autor Morchiladze wählt eine dem Krieg so nahe Erzählperspektive, dass der Leser viel über ihn zu erfahren meint, aber am Ende gar nichts weiß. Es bleiben nur Schatten von Erinnerungen und Gefühlen: Widerwille, Grausamkeit, Tristesse und Morbidität.
Der überflüssige Mensch
„Ich weiß eines, nämlich dass ich nichts weiß, ich weiß rein gar nichts auf dieser Welt. Ich weiß, dass mein Leben nichts bedeutet. Ich gehe hin und her, liege im Sessel rum, rauche Zigaretten und quatsche. Diesen Zustand nennen die im Fernsehen rumlabernden, in letzter Zeit vollbartbewachsenen Klugscheißer den monotonen Alltag oder Lebensüberdruss oder was auch immer.“
Gio lebt in den Tag hinein ohne Aufgabe oder Sinn, in Tiflis wie auch später in dem armenischen Dorf in Karabach. Seine einzigen Gedanken gebühren seiner gescheiterten Liebe Jana. So erinnert der Protagonist stark an das aus der russischen Literatur stammende Bild des überflüssigen Menschen. Er zerbricht zunehmend an den Konventionen der Gesellschaft und daran, einen Sinn sowie Platz im Leben zu finden. Dazu gesellt sich seine unentbehrliche Suche nach Freiheit. Er scheint diese immer dort zu vermuten, wo er sich gerade nicht befindet.
Besonders diese Charakterisierung des Protagonisten gelingt Morchiladze ausgezeichnet. Dazu gebraucht er nicht viele Worte. Die Situationen sprechen für sich und malen ein viel genaueres, tieferes Bild, als explizite Beschreibungen dies könnten. Auch die verlorene Liebe zu Jana verdeutlicht der Autor auf eine sehr subtile, nüchterne, aber gleichwohl auch träumerische Weise, sodass dieses Fragment des Romans keinesfalls überladen und kitschig, sondern einfach nur schön und melancholisch wirkt.
Die Lokalisierung der Freiheit
Nichtsdestotrotz kann Reise nach Karabach nicht an allen Stellen überzeugen. Gios und Goglikos Fahrt mit dem Auto nach Karabach zieht sich. Ihre Unterhaltungen wirken dumpf und schwach. Was am meisten stört, ist ihr Duktus: Die andauernde Verwendung von Begriffen wie „zur Hölle“, „oder so“ und „scheiß drauf“ gemischt mit Gesprächen über Drogen nerven und langweilen schlichtweg, obwohl sie selbstverständlich eine Funktion haben. Dabei ändert sich die Erzählweise sehr schnell, die Themen werden philosophischer und der Roman gewinnt sowohl an Spannung als auch an Anspannung.
Während des Lesens wirkt das georgische Werk über Liebe, Freiheit und Krieg sehr deskriptiv und direkt. Doch besonders der letzte Teil haucht der Geschichte ihren Geist ein. Er sorgt für einen inneren Zusammenhalt im Roman und rundet ihn sinnvoll ab. Sicherlich ist die Art zu erzählen eine, an die man sich erst gewöhnen muss. Das ist gleichwohl ein Teil der Stärke des Romans. Das Werk ist nicht durchschnittlich, weder thematisch noch erzählerisch. Somit eröffnet es neue Perspektiven, ermöglicht eine andere Sicht auf das Leben und fordert implizit zum Nachsinnen über die Funktion von Kriegen, die Frage nach der Nationalität sowie die Lokalisierung der Freiheit auf. Schließlich zeugt der abschließende Blick auf das Gesamtwerk nach der Lektüre von einem tiefgründigen, universellen und globalen Roman, in dem mehr versteckt ist, als beim Lesen scheint.
Aka Morchiladze: Reise nach Karabach. Aus dem Georgischen von Iunona Guruli
Weidle, 176 Seiten
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-938803-87-5