Ein Fest der Wollust

"Die Philosophie im Boudoir" am Schauspielhaus Bochum Foto: Birgit Hupfeld

“Die Philosophie im Boudoir” am Schauspielhaus Bochum Foto: Birgit Hupfeld

Herbert Fritsch feiert mit seiner Bochumer Neuinszenierung der Philosophie im Boudoir den Marquis de Sade. Ein Bühnen- und Kostümbild für die Götter, stimmige Live-Klaviermusik und Darsteller, die nicht bloß sprachlich, sondern vor allem körperlich alles in die Waagschale werfen – mutige, erfrischende und in ihrer Kohärenz schwer zu übertreffende Abende wie dieser sind das Lebenselixier des Stadttheaters.  

von HELGE KREISKÖTHER

Donatien Alphonse François de Sade (1740-1814), bekannt als der Marquis de Sade, führte ein ausschweifendes, jegliche Moralkonventionen seiner Epoche negierendes Leben: Orgien mit Prostituierten, anstößige Liebschaften, Giftmordanschläge, Sodomie- und Schuldenprozesse – ein Kind von Unschuld war der Spross eines provenzalisch-italienischen Adelsgeschlechts aus Avignon sicher nicht. Und so nimmt es kaum Wunder, dass auch seine enorm „experimentierfreudigen“, aristokratischen und mit Vorliebe weiblichen Protagonist(inn)en in hermetisch vom Einfluss der Gesellschaft abgeschirmten Schlössern und Burgen – Pardon – ficken bis zum Umfallen, Heranwachsende vergewaltigen und Gott sowie jedweder christlichen Moral lästern. Man könnte von exklusiven „SM-Partys“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts sprechen, ohne jedoch den „göttlichen Marquis“, zu dessen posthumen Bewunderern Baudelaire, Flaubert und Edgar Allan Poe gehörten, in die Nähe nichtssagender Erotikromane der Gegenwart (allen voran nach wie vor: 50 Shades of Grey) rücken zu wollen. De Sade enttäuscht den pornografischen Leser ebenso wie den verklemmten, seine Schriften erschließen sich lediglich jenen, die zu entdecken, d. h. hinter die Fassade seiner brüskierenden Figuren und Thesen zu blicken vermögen. Nur dann lässt sich schließlich erkennen, wie souverän-unerbittlich dieses Enfant terrible der Aufklärung Scheinheiligkeit und Stumpfsinn, den Klerus, widernatürliche Staatsgesetze und die Sentimentalität seiner Epoche an den Pranger stellt.

Die Philosophie im Boudoir, im Original mit dem verheißungsvollen Untertitel Les instituteurs immoraux (also in etwa Die lasterhaften Lehrmeister) versehen, erschien erstmals 1795 anonym und gehört zusammen mit Die 120 Tage von Sodom (1785) und dem Doppelroman Justine oder Die Leiden der Tugend / Juliette oder Die Vorzüge des Lasters (1797) zu jenen berüchtigten wie umfangreichen Werken, die der Marquis während seiner zwölfjährigen Gefangenschaft in der Bastille – so akkurat wie man es einem „Scheusal“ kaum zutraute – auf schier endlosen Papierbögen niederschrieb. Natürlich geht es auch in der Schlafzimmer-Philosophie um die Libertinage, also um schonungslos ausgelebte und zur Schau gestellte Sexualität, jedoch auch um geschlechtliche Emanzipation und dezidiert republikanische Reformideen wie etwa die Abschaffung der Todesstrafe. Hauptfigur respektive wichtigstes Versuchsobjekt ist die junge Eugénie, begierig, in jedem erdenklichen Laster, vom Wichsen bis zum Analverkehr, unterwiesen zu werden. Fernab vom Elternhaus geben ihr Madame de Saint-Ange, Dolmancé und andere Lüstlinge – allesamt Sadisten par excellence – wertvolle theoretische wie praktische Lektionen, die sie Scham und Anstand, ihre Mutter und Gott vergessen lassen.

"Die Philosophie im Boudoir" am Schauspielhaus Bochum Foto: Birgit Hupfeld

“Die Philosophie im Boudoir” am Schauspielhaus Bochum Foto: Birgit Hupfeld

Sadistische Bühnenprosa

De Sade hätte sicher Freude an Bühnenadaptionen seiner Romane gefunden, war er doch selbst in seinen letzten Lebensjahren als Spielleiter einer Laiengruppe in der psychiatrischen Klinik von Charenton tätig. Darüber hinaus scheint insbesondere die Philosophie im Boudoir aufgrund der dialogischen Struktur und der zahlreichen einschlägigen „Reden“ für eine szenische Umsetzung wie geschaffen zu sein. Herbert Fritsch, der unter Frank Castorf an der Berliner Volksbühne viel Erfahrung als Darsteller sammeln konnte und spätestens seit 2011/12 auch Bekanntheit als kreativer Regisseur genießt, verlässt sich jedoch nicht allein auf die Kraft der (geordneten) Sprache. Vielmehr lässt er die Vulgarität und Brutalität der De Sade’schen Sentenzen, für die es sowohl beim Lesen als auch beim Schauen einen langen Atem braucht, in seiner Inszenierung durch eine Menge körperlichen Einsatz lebendig werden. Das sechsköpfige Ensemble hechelt, gackert, bibbert, schneidet Grimassen, imitiert Dialekte bis ins Extreme, tanzt, rennt auf und ab, erstarrt zu obszönen Tableaux vivants. Albern ist daran, anders als man vermuten könnte, überhaupt nichts, denn der Bezug zur Vorlage geht niemals verloren. Im Gegenteil: Was der Marquis in seinem Roman erdachte, zeigt sich virtuos, oftmals karikaturhaft nach außen gekehrt. Auf diese Weise macht Fritschs Zuschnitt performativ erfahrbar (um nicht zu sagen „genießbar“), was sich rein intellektuell kaum aushalten lässt.

Doch Ehre, wem Ehre gebührt: Svetlana Belesova, Jele Brückner, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, Ulvi Teke und Jing Xiang verkörpern die Romanfiguren dynamisch und mit Wiedererkennungswert. Ganz im Sinne des „Spiels“, das im sogenannten Sprechtheater häufig zu kurz kommt, zeigen sie sich beeindruckend wandlungsfähig. Fritsch kann sich also blind auf sein Ensemble verlassen. Vor allem Jele Brückner (überwiegend als Madame de Saint-Ange) und Ulvi Teke (überwiegend als Dolmancé) wissen die reizvolle Verdorbenheit ihrer Figuren mimisch und gestisch nach allen Regeln der Kunst auszugestalten. „Ich habe mich von 15 Männern gleichzeitig benutzen lassen; ich bin in 24 Stunden 90-mal von vorn und hinten gefickt worden“ – Sätze wie dieser erfahren durch die darstellerische Überspitzung in der Bochumer Inszenierung eine wunderbare Brechung, die nicht zuletzt auf die satirischen Qualitäten De Sades hinweist. Die zahlreichen Zuschauer, die entrüstet die Premiere verließen, scheinen dem Marquis indessen 200 Jahre nach seinem Tod immer noch vollends auf den Leim zu gehen. Wie käme ein solcher Abend erst auf einer anderen Bühne, jenseits des wahrlich nicht für seine Verklemmtheit bekannten Ruhrgebiets, an?

Ein Augen- und Ohrenschmaus

In Szene gesetzt wird das Ensemble durch präzise Lichtstimmungen (Bernd Felder) und ein schlicht-atmosphärisches Bühnenbild, für das Herbert Fritsch wie gewohnt selbst verantwortlich zeichnet. Auf der weiten, schwarz glänzenden Spielfläche ist im Mittelpunkt lediglich ein geheimnisvoller rechteckiger Abgrund eingelassen – Hölle oder Lustgewölbe? –, aus dem immer wieder ein roter Block herausgefahren wird, der wiederum einzelnen Figuren oder der ganzen Gruppe eine erhöhte Spielfläche bietet. Vor allem ist es aber den fantasievollen Kostümen (Victoria Behr) und der beeindruckend farbintensiven Maske (Katharina Bondzin, Joana Hille, Astrid Schenkel) zuzurechnen, dass die Schauspieler als hochgradig ästhetisierte Bühnenfiguren erscheinen, deren Gewänder, Kopfbedeckungen, Gesichtsfarben und schaurige Kontaktlinsen gleichermaßen Assoziationen zu Gemälden von Velázquez, zum extravaganten Stil einer Madame de Pompadour, zu zwielichtigen Rotlichtgestalten, Draculas Bräuten oder auch zu Filmen wie Eyes Wide Shut wecken. Das Theater endlich mal wieder als Rausch der Sinne.

Apropos: Ein genialer Regieeinfall ist weiterhin die kontinuierliche Livemusik-Untermalung durch den Pianisten Otto Beatus, die den Monologen etwas Rezitativisches, dem gesamten Abend etwas Opernhaftes verleiht. Zurückhaltende improvisationsartige Klänge, markante Walzerrhythmen, Anklänge an Johann Sebastian Bach und die mit treffsicherer Ironie eingebaute Ballade pour Adeline vereinen sich zu einem mehr als adäquaten Soundtrack für jene „tausendräumige Folterkammer des Sexus“ (Walter Lennig), die der Marquis de Sade vor unseren Augen ausbreitet. Der stumme, buchstäblich schwebende Auftritt einer puppenähnlichen Ballerina am „Zopfhang“ (Julia Myllykangas), der diesen textreichen Abend einläutet, rundet ihn schließlich auch ab (Dramaturgie: Vasco Boenisch). Als Zuschauer bleibt man nach den zwei Stunden zwar erschöpft, aber im besten Sinne perplex zurück. Langweilig oder überflüssig ist hier so gut wie gar nichts: Fritsch gelingt fordernd-fetziges Bühnen-Entertainment nach einem gewagten „klassischen“ Stoff – gerne mehr davon!

Informationen zur Inszenierung

Nächste Vorstellungen:
Donnerstag, der 27. Dezember 2018
Montag, der 31. Dezember 2018
Freitag, der 4. Januar 2019

 

Ein Gedanke zu „Ein Fest der Wollust

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