
Verdis “Otello” am Essener Aalto-Theater Foto: Thilo Beu
Im Essener Aalto-Musiktheater gibt es mal wieder eine Verdi-Neuinszenierung. Diesmal jedoch nicht ein Klassiker wie Aida, La Traviata oder Rigoletto, sondern ein Spätwerk, das der Komponist in Angriff nahm, obgleich er sich eigentlich schon von der Opernwelt verabschiedet hatte: Otello nach Shakespeares gleichnamigem Drama. In der Regie von Roland Schwab und unter musikalischer Leitung von Matteo Beltrami wird (aufs Neue) deutlich, warum dieses „lyrische Drama“ zweifellos Verdis anderen Meisterwerken ebenbürtig – wenn nicht gar überlegen – ist.
von HELGE KREISKÖTHER
An Giuseppe Verdi (1813-1901), der im selben Jahr wie Richard Wagner das Licht der Welt erblickte, kommt niemand vorbei, der sich mit Opern beschäftigt. Seine zahlreichen Werke – neben den oben genannten sind das vor allem Nabucco, Il trovatore, Un ballo in maschera sowie die Opern nach Vorlagen von Shakespeare und Schiller, etwa Macbeth, Don Carlos und Falstaff – gehören unverändert zum weltweiten Grundrepertoire. Zu Recht, denn Verdi erreichte 100 Jahre nach Gluck wieder so etwas wie eine „perfekte Symbiose“ von Drama (gehaltvoller Text) und Musik (effektreicher, aber authentischer Gesang). Damit löste er die Oper aus der Belcanto-Tradition heraus, für die bravouröse Arien mit der Zeit wichtiger geworden waren als nachvollziehbare Handlungslinien. Insbesondere im Librettisten Arrigo Boito (1842-1918), der mit einer Oper nach Goethes Faust auch als Komponist in Erscheinung getreten war (sehr hörenswert: Mefistofele), fand Verdi schließlich für seine zwei letzten großen Bühnenwerke, Otello (1887) und Falstaff (1893), einen idealen ebenbürtigen Partner. Nur Mozart konnte sich wohl ähnlich glücklich schätzen in seiner Zusammenarbeit mit Lorenzo Da Ponte.
Boito verkitscht oder „verstümmelt“ Shakespeares Tragedy of Othello, the Moor of Venice (1603/04), eines der berühmtesten Eifersuchtsdramen der Weltliteratur, keineswegs, vielmehr verdichtet er die Vorlage mit ihren über 3.000 Versen zu einem nahezu konkurrenzlos straffen, in sich stimmigen Operntext mit etwa 800 Versen. So fallen der erste Akt des Stückes (mit dem Schauplatz Venedig) und einige andere Passagen zwar zum Großteil völlig raus, doch Boito erreicht in seinem Libretto hierdurch eine Konzentration auf gewissermaßen symbolische Einzelszenen wie etwa Jagos Credo in un Dio crudel (Ich glaube an einen grausamen Gott) im zweiten oder bedeutungsvolle Chorpassagen wie das Fuoco di gioia! (Feuer der Freude!) im ersten Akt. Auch die Gegensätzlichkeit zwischen dem Unschuldig-Reinen – verkörpert durch Othellos Gattin Desdemona – und dem Gewissenlos-Bösen, das ewig in der Welt fortwirkt, – natürlich repräsentiert durch den Fähnrich Jago – arbeitet er beinah noch „greifbarer“ heraus als Shakespeare. All dies lässt Verdi wiederum eine Menge Raum für stimmungsvolle, nahtlos in die Handlung integrierte Gesangsnummern, instrumentale Raffinessen und besondere klangmalerische Effekte (etwa Englischhorn- oder Kontrabasssoli).

Verdis “Otello” am Essener Aalto-Theater Foto: Thilo Beu
Cineastischer Operngenuss
Ohne Ouvertüre nimmt das Geschehen in Otello mit einem Seesturm sogleich Fahrt auf. In der Essener Inszenierung lässt Regisseur Roland Schwab nach Lichtung des Vorhangs jedoch erstmal einige Augenblicke stumm verstreichen: Man sieht zwei arglistige Soldaten höheren Ranges – einer von ihnen Nikoloz Lagvilava als Jago –, die ihre Maskulinität zur Schau stellen und mit handlichen Maschinen Nebelschwaden ziehen, gefolgt von einem riesigen Soldatenheer (bzw. einer Schiffsbesatzung) in modernem Tarndress, das allmählich vorwärtsschreitet. Dann erst setzen die Essener Philharmoniker unter der Leitung des jungen Genueser Dirigenten Matteo Beltrami mit präziser Wucht musikalisch ein, unterstreichen das szenische Tohuwabohu und nicht zuletzt Verdis meisterhaft dynamische Orchesterbehandlung, die es allemal mit Wagners Meeresbrausen im Fliegenden Holländer aufnehmen kann.
Weitere Regieeinfälle sorgen im Zusammenspiel mit dem Bühnenbild (Piero Vinciguerra) und -licht (Manfred Kirst) über den gesamten Abend für grandios ausgestaltete Kulissen und situative Zuspitzungen: etwa der bedrohliche Dschungel-Hintergrund, der wie in Apocalypse Now in Flammen aufgeht, die „Vervielfältigung“ des wahnsinnigen Otello durch elf entstellt-blutige Doubles oder die riesigen Jalousien, die, in verschiedenen Positionen auf die Bühne herabhängend, Räume eröffnen, aber vor allem – gleich Baudelaires spleenigem Riesenkerker, den „ein stummes Volk verruchter Spinnen“ bewohnt – das psychische Verhängnis der Hauptfigur symbolisieren. Diese ungemein düstere, nur von wenigen „heiteren“ Momenten durchzogene Oper verträgt eine solche, offenkundig cineastisch inspirierte Herangehensweise recht gut, zumal sie die Zuschauerschaft zwischendrin fast vergessen lässt, dass sie im Opernhaus sitzt. Einzig die testosterongeladenen Muskelspiele der militärisch ausstaffierten Recken (Kostüme: Gabriele Rupprecht) sind auf Dauer zu viel des Guten.
Eine Kraftprobe für die Solisten – und Glanzstunden für den Chor
Der US-amerikanisch-uruguayische Tenor Gaston Rivero verkörpert in Essen die Hauptrolle des eigentlich so siegreichen, dann aber in den todbringenden Strudel der Eifersucht gelockten Feldherrn. Sein kraftvoller, allenfalls gelegentlich etwas unflexibler Tenor ist dieser anstrengenden Aufgabe allemal gewachsen, sodass man (den passenderweise sehr muskulösen) Rivero vermutlich bald in die Schar der großen Otello-Sänger (Mario del Monaco, Carlo Cossutta, Plácido Domingo usw.) einreihen kann. An seiner Seite brilliert die niederländische Sopranistin Gabrielle Mouhlen als elfenbeinschöne Desdemona, deren zurückblickende Canzone del salice (Weidenbaum-Arie) und Gebetsszene Ave Maria, piena di grazia im vierten und letzten Akt zwar sämtlichen Klischees eines in die Länge gezogenen Operntodes entsprechen, dank ihrer unprätentiösen Stimmführung und der hauchzarten Untermalung durch die Essener Philharmoniker jedoch zu einem wahrhaft anrührenden Moment geraten. Fulminant schlägt sich darüber hinaus der seit der vergangenen Spielzeit fest zum Aalto-Ensemble gehörende Bariton Nikoloz Lagvilava als Jago. Sein dämonisch-dunkles Timbre jagt einem Schauer über den Rücken und verleiht der ohnehin satanisch gezeichneten Figur die Aura eines unerschütterlichen Erzverbrechers – Don Giovanni kann einpacken. So hat man selten etwas derartig Packendes wie den gemeinsamen Racheschwur von Otello und Jago (Sì, pel ciel marmoreo giuro! / Ja, beim Himmel will ich schwören!) am Ende des zweiten Aktes, unmittelbar vor der Pause, gehört.
Last but not least seien wieder einmal Chor und Extrachor des Aalto-Theaters (Einstudierung: Jens Bingert) bejubelt. Artikulatorisch sauber, sehr lebendig und, wenn nötig, mitleidend fügen sich die Sängerinnen und Sänger in der Rolle des venezianischen bzw. zypriotischen Volkes, der Seeleute, Soldaten und Edeldamen in die entsprechenden Szenerien ein. Wie vom Komponisten vorgesehen, verkümmert der Chor somit keineswegs, wie in vielen anderen Opern, zum bloßen „Background“, sondern partizipiert facettenreich an der Handlung. Viva Verdi!, möchte man also nach diesem gut zweistündigen Abend ausrufen – wäre das Ende von Otello nicht so dunkel und zerfließend pianissimo.
Informationen zur Inszenierung
Nächste Vorstellungen:
Freitag, der 8. Februar
Mittwoch, der 20. Februar
Mittwoch, der 27. Februar
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