
Stephan Thome – Gott der Barbaren Cover: Suhrkamp
In seiner Erzählung Gott der Barbaren über den Taiping-Aufstand im China des 19. Jahrhunderts stilisiert Stephan Thome seinen Roman zu einer Kulturgeschichte des Fremden. Inmitten von politischen Würdenträgern, gewaltenthemmten Kriegern und unaussprechlichem Leid versucht der Deutsche Philipp Johann Neukamp, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Doch während die Gewaltexzesse in immer grausamere Taten kulminieren, geht dem Roman selbst ein wenig die Puste aus.
von THOMAS STÖCK
China, das Reich der Mitte, ist eines der kulturträchtigsten Länder überhaupt – und doch ist ein Großteil seiner Geschichte im Westen weitgehend unbekannt. Wie findet man einen Zugang zu der Geschichte eines Landes, die so anders zu sein scheint als das eigene? Stephan Thome orientiert sich bei seiner Geschichtsvermittlung an literarischen Vorbildern, die in ihren Werken ‚das Fremde‘ sprechen lassen. Goethe beispielsweise lässt seinen West-östlichen Divan zu einem Ort der Begegnungen des Fremden und des Eigenen werden. Gleichsam kann der Blick des Fremden auf das Eigene dazu genutzt werden, um das Bestehende, Althergebrachte zu hinterfragen und gleichzeitig das Volk über bis dato völlig Unbekanntes aufzuklären, wie es Montesquieu in seinen Lettres Persanes tut.
Ein solch aufreizend anspruchsvolles Projekt bedarf eines komplexen Erzählgegenstands. Diesen macht Thome im Taiping-Aufstand aus, der China von 1851 bis 1864 während der im Untergang begriffenen Qing-Dynastie erschütterte. Im Gegensatz zum teils zeitgleich stattfindenden Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten von Amerika erreichte der Taiping-Aufstand nicht dieselbe Aufmerksamkeit der (westeuropäisch dominierten) Weltöffentlichkeit – trotz der Tatsache, dass während der Konflikte zwischen 20 und 30 Millionen Menschen ihr Leben ließen und der Taiping-Aufstand somit der Bürgerkrieg mit den meisten Opfern aller Zeiten ist.
Der Roman als Kulturgeschichte Chinas
Insgesamt vier große Gruppen entstammen diesem Krieg und bevölkern die Buchseiten: Die Qing-Dynastie und ihre kaiserlichen Truppen, insbesondere die Hunan-Armee unter der Führung von Zeng Guofan; die christliche Sekte unter Hong Xiuquan, die sich gegen das Kaiserreich erhoben hat und von Nanking aus agiert; die Mongolen unter ihrem Prinzen Sankolinsin, die eigentlich kaisertreu agieren, aber von der Bevölkerung als Barbaren am liebsten fortgejagt würden; und zu guter Letzt die europäische Koalition, angeführt von den Briten und unterwandert von Glücksrittern, die in China auf verschiedene Weise sozial aufsteigen wollen. Einer dieser Glücksritter ist Philipp Johann Neukamp, ein fiktiver Charakter, der während der Revolution von 1848 Robert Blum begegnet und hernach auch dem Ruf des Missionars Karl Gützlaff in das ferne Land folgt, um mittellosen Chinesen das Christentum näherzubringen. Ein Blick auf das weitere Figurenpersonal zeigt die Vermischung von Realität und Fiktion: An die Seite von Lord Elgin, dem Sonderbotschafter der britischen Krone, General Guofan sowie die Aufständischen Hong Xiuquan und dessen Vetter Hong Jin treten fiktive Charaktere wie Elisabeth, die Leiterin eines Hauses für Waisenkinder, und der amerikanische Abenteurer Alonzo Potter.
Die komplexe Figurenkonstellation deutet bereits an, wie undurchsichtig der gesamte Konflikt ist. Neukamp ist eigentlich nur ein kleiner Fisch in diesem Menschenmeer, doch erst durch ihn fügen sich die multiperspektivisch erzählten Handlungsstränge zu einem kohärenten Bild zusammen. Dieses Bild wird maßgeblich geprägt durch fingierte Dokumente, die die Figuren in ihrem ganz eigenen Duktus zu Wort kommen lassen. In Tagebucheinträgen und Zeitungsartikeln, Briefen an Verwandte und Protokollen von Debatten im House of Lords oder gar einer kaiserlichen Audienz gelingt es Thome, durch seine Figuren den Zeitgeist sprechen zu lassen. Durch die Passivität des Erzählers, durch das Ausbleiben der Kommentierung der gegenseitigen Ignoranz und allseitigen Arroganz vollzieht der Leser nach, wieso die Gewalt in immer weiteren Bahnen eskaliert.
Der Blick auf China oder: Das überhebliche Naserümpfen
So ist die Perspektive der englischen Kolonisten auf das traditionsbewusste Kaiserreich von einem Überlegenheitsgefühl gegenüber dem als barbarisch und rückständig empfundenen chinesischen Volk geprägt. Gleichzeitig geben sich Figuren wie Lord Elgin als Gönner, wenn sie ihre kriegerischen Bemühungen rechtfertigen: „Uns geht es […] nicht darum, ein Exempel zu statuieren. Wir haben Respekt vor ihren Sitten und achten ihre Tradition, auch wenn wir sie nicht verstehen.“ Lord Elgin verweist auf die Tradition des Füßebindens, bei der chinesischen Frauen der Fußknochen mehrfach gebrochen wird – bis aus dem Fuß eine Lotusblüte ‚erwächst‘. Angewidert blickt der Lord hinab auf seinen Untergebenen, der sich mit einem chinesischen Untergebenen gemein macht, indem er ihn in seiner Kajüte schlafen lässt. Doch sind die Europäer nicht genau das – sind sie nicht mit den Chinesen gemein?
Ein in den Roman eingebauter Artikel aus der Times berichtet beispielsweise über die Landung britischer Truppen, diese „erfolgte […] in reibungsloser Manier“. Nur einige Zeilen später heißt es, es war „ein herzzerreißender Anblick, Mütter mit schreienden Babys im Arm und alte Menschen auf dem Rücken ihrer Kinder den Ort verlassen zu sehen. Auch kam es vereinzelt zu unschönen Szenen, bei denen sich Kanton-Kulis und französische Gefreite besonders hervortaten. Der Chronist kann jedoch berichten, dass das Betragen unserer Truppen tadellos war.“ Ob es sich bei diesen „unschönen Szenen“ um Vergewaltigungen, Plünderungen oder Gemetzel handelte, wird bewusst offengelassen. England präsentiert sich im Roman als ein Land der Wohltäter und Friedensbringer; Täter sind immer die Anderen. Und selbst Neukamp, der eigentlich nur helfen will, stellt fest: „Das Land ist so verkommen, dass es nicht reicht, nur ein paar Waisen zu retten. Alles muss sich ändern.“ Immerhin fügt er daran an, dass die Chinesen diese Änderungen übers Land bringen müssen und nicht die Europäer.
Das kaiserliche China – Bonmots und grenzenlose Grausamkeit
Diese anmaßende Haltung trifft auf ein Volk, dessen Kultur bereits goldene Zeitalter durchlebt hatte, als die englische Nation noch nicht einmal existierte. Wenig verwunderlich ist es daher, dass die Chinesen, insbesondere die Führungsbeletage um den chinesischen Kaiser, auf die arroganten Ausländer ihrerseits hinabblicken. Zähneknirschend verbündet sich die Qing-Dynastie mit den Invasoren, um so zumindest den Unruhen im eigenen Land den Garaus zu machen. Und während des Krieges zeigt sich, dass Zeng geistiger Erbe von Persönlichkeiten wie Sun Tzu oder auch Konfuzius ist. So gibt Zeng seinem Sohn mit auf den Weg: „Sein Leben führen, ohne nach Reichtum zu streben; Bücher studieren, ohne auf einen Posten zu hoffen.“ Und auch für sein Leben als politischer Akteur weiß er sich selbst zu helfen, wenn er sagt: „Die Welt von heute regiert man so, wie es heute angemessen ist, ohne zu wissen, ob es morgen noch gelten wird.“ Auch das einfache Volk wird in einer besonderen künstlerischen Aufmachung instruiert, sich selbst zu verteidigen, mit der Ballade zur Wahrung von Frieden und Stabilität.
Doch das Bild Chinas erscheint nicht romantisch-verklärt. Thome kreiert ein plastisch-realistisches China im 19. Jahrhundert, ein Land humanitärer Katastrophen. Durch die 14 Jahre andauernden Konflikte ist die Bevölkerung ausgezehrt, Einwohner mancher mehrfach die Herrschaft wechselnder Städte werden ausgerottet. Als Zeng seinem Untergebenen den Befehl gibt, eine ganze Stadt zu ‚säubern‘, sträubt dieser sich und fragt: „Alle?“, woraufhin Zeng ein drastisches Urteil fällt: „Wer noch Milchzähne hat, den könnt ihr laufenlassen.“ Gott der Barbaren ist definitiv nichts für Zartbesaitete.
Krieg als Raum der Begegnung
Thome gelingt es, einer im Niedergang begriffenen Kultur des chinesischen Kaiserreichs ein Mahnmal zu setzen. Dabei zieht er geschickt eine Verbindung zur deutschen Geschichte, indem er einen gescheiterten Revolutionär an der christlichen Missionierung der Chinesen teilhaben lässt. Vieles wäre noch zu sagen über einzelne Charaktere, über die Stellung der Frauen in den Gesellschaften des 19. Jahrhunderts (beinahe alle weiblichen Figuren sterben im Roman an einer Krankheit), über den Verlauf der Revolution, über die Sinnlosigkeit von Krieg und über die zahllosen Opfer. Gott der Barbaren stellt das Grauen in aller Anschaulichkeit dar – und lässt die verschiedenen Kriegsschauplätze zu einem Ort der Begegnungen werden. Erst auf dem Schlachtfeld sind die Menschen gleich und im Tode vereint.
Jedoch tritt mit der Gewöhnung an den stetigen Perspektivwechsel auch eine Gewöhnung an die Gräueltaten des Kriegs ein. Schockt es den Leser noch, das erste Mal von gebrochenen Fußgelenken zu lesen, so muss Thome das Leiden seiner Figuren exponentiell steigern: Neukamp wird eine Hand weggesprengt, die ersten Soldaten richten unschuldige Dorfbewohner hin, dann erteilt Zeng den Befehl zur Ausrottung aller, die keine Milchzähne mehr haben. Über den repetitiven Charakter der Kriegshandlung kann die ausufernde Gewalt leider nicht hinwegtäuschen und so geht auch der Erzählung selbst ein wenig der Atem aus.
Stephan Thome: Gott der Barbaren
Suhrkamp, 719 Seiten
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3518428252