
“Die Kopien” am ROTTSTR5 Theater Foto: Sophia Remer
Constanze Hörlin inszeniert Caryl Churchill am ROTTSTR5 Theater in Bochum. Die Kopien thematisiert aktuelle Fragen nach Identität und Austauschbarkeit und ist doch in seiner Zeit verhaftet. Die Inszenierung vermag jedoch nicht über die Oberflächlichkeit des Textes hinwegzutäuschen.
von MORITZ MÜLLER
Simon Stephens, der wohl meistgespielte zeitgenössische Dramatiker Großbritanniens, bezeichnete in einem 2016 für das Londoner Royal Court Theatre entstandenen Interview Caryl Churchills Far Away aus dem Jahr 2000 als das bedeutendste Stück des bisherigen Jahrhunderts. Die einzige ernstzunehmende Konkurrenz bestünde, so Stephens, aus Sarah Kanes Text 4.48 Psychosis, der zwar ebenfalls im Jahr 2000 uraufgeführt wurde, logischerweise aber bereits vor ihrem Tod 1999 entstand und somit, strenggenommen, nicht zu den dramatischen Errungenschaften des noch jungen 21. Jahrhunderts gezählt werden könne.
Man mag dieser subjektiven Einschätzung zustimmen oder auch nicht, unbestritten sollte jedoch sein, dass sowohl Caryl Churchill als auch Sarah Kane zu den bedeutendsten Dramatikerinnen der neueren Theatergeschichte zählen. Umso verwunderlicher ist es, dass die Stücke beider Autorinnen auf deutschsprachigen Bühnen kaum eine Rolle spielen. Immerhin schaffen es Kanes Texte zwar von Zeit zu Zeit noch auf die Bühnen großer Häuser, während Caryl Churchills Dramen hierzulande offenbar vollkommen in Vergessenheit geraten sind. Die letzte Inszenierung eines Churchill-Textes, die überregionales Aufsehen erregte, liegt mittlerweile schon über zehn Jahre zurück: Es handelt sich hierbei um die deutschsprachige Erstaufführung ihres 2006 entstandenen Stücks Drunk Enough to Say I Love You in der Regie von Benedict Andrews an der Schaubühne Berlin im Jahr 2007.
Väter und Söhne
Das freie ROTTSTR5 Theater in Bochum mag dem Vergleich mit dem Berliner Theater am Lehniner Platz nur schwer standhalten, doch die jüngste Inszenierung eines Churchill-Textes im Ruhrgebiet ereignet sich nun hier. Regie führt Constanze Hörlin, ihres Zeichens Regiestudentin im dritten Jahr an der Folkwang-Universität der Künste. Die Kooperation zwischen ROTTSTR5 und Folkwang hat in den vergangenen Jahren bereits Inszenierungen wie Howie the Rookie (Regie: Remo Philipp) oder Die Odyssee (Regie: Daniel Kunze) hervorgebracht – Arbeiten, die sich auch heute noch im regulären Spielplan wiederfinden. Inszeniert hat Hörlin Churchills Stück Die Kopien (A Number, Deutsch von Falk Richter), ein im Jahr 2002 entstandener Text, der die Fragilität des Konstruktcharakters von Identität am Beispiel des Klonens und den daraus resultierenden ethischen Komplikationen durchexerziert. Churchill nutzt hierfür zwei Figuren, Salter und Bernhard, ein nicht ganz so klassisches Vater Sohn-Duo. Die Kopien erzählen die Geschichte eines Familiengeheimnisses, einer Lebenslüge und deren Auflösung in Entfremdung, Zweifel und Gewalt.
Als Bernhard eines Tages durch die Straßen läuft, steht er plötzlich sich selbst gegenüber. Er wendet sich an seinen Vater und erfährt, dass er einen Bruder hat, der nach dem Suizid der Mutter in ein Heim kam, und dass sein Vater ihn, Bernhard, als Klon dieses Bruders in Auftrag gab. Doch anscheinend hat das dafür verantwortliche Unternehmen ohne Salters Erlaubnis noch weitere Kopien von ihm angefertigt, die nun frei herumlaufen.
Bernhard stürzt diese Entdeckung in eine tiefe Identitätskrise. „Du läufst durch die Straßen und plötzlich stehst du dir selbst gegenüber. Wenn das ich bin da drüben, wer bin dann ich?“, heißt es an einer Stelle. Bernhard macht sich auf die Suche nach seinen anderen Ichs – dass seine Absichten dabei nicht altruistisch motiviert sind, ist mehr als deutlich, und auch sein Vater sucht schließlich die alternativen Versionen seines Sohnes auf.

“Die Kopien” am ROTTSTR5 Theater Foto: Sophia Remer
Die Ästhetik der Oberfläche
Was sich liest wie der Auftakt einer handelsüblichen Netflix-Serie, bleibt dabei leider auch so oberflächlich wie eine solche. War „Zeitlosigkeit“ doch stets die Stärke von Churchills Texten, so muss man hier leider feststellen, dass Die Kopien verhältnismäßig schlecht gealtert ist. Geschichten über die Zerbrechlichkeit von Identität und Ich-Konzepten, insbesondere Geschichten über „Identitätsdiebstahl“, würden heute wohl anders erzählt werden, was beunruhigenderweise auch daran liegt, dass die Realität die Fiktion längst überholt hat und ein Rekurs auf die Klon-Problematik in Zeiten von Facebook, Apple & Co. wohl kaum nötig wäre, um Stoff für eine derartige Erzählung zu finden (da von Netflix bereits die Rede war, vergleiche man hierzu gerne die Serie Black Mirror als Positivbeispiel).
Die Bochumer Inszenierung und vor allem die Schauspieler verstärken diesen negativen Eindruck noch. Bedauerlicherweise bleibt alles oberflächlich. Vieles wird bloß angerissen, kaum etwas zu Ende gedacht. Wenn Paul Hofmann gen Ende eine alternative Version seines Bernhard im Gespräch mit seinem biologischen Vater zum Besten gibt, reicht es aus, sich dafür eine Brille aufzusetzen und die Stimme in Richtung „amüsanter Sprachfehler“ zu verstellen. Die Szene ist symptomatisch für die Problematik des Abends: Was wohl eine düstere Zukunftsvision im Sinne von Huxleys Brave New World werden sollte, verleitet das Publikum hier einzig und allein zu ausgelassenem Gelächter. Die zugrundeliegende Thematik wird nicht ernst genommen, sondern ironisiert und auf Distanz gehalten. Dieser Bernhard, der mit seiner Aufmachung wohl den archetypischen „Nerd“ darstellen soll, erzählt seinem Vater, dass wir zu dreißig Prozent dieselben Gene haben wie ein Salatkopf und dass ihm dieses Wissen das Gefühl gebe, dazuzugehören. Wenn ich zu neunundneunzig Prozent dieselben Gene habe wie jeder andere Mensch und zu fünfundneunzig Prozent dieselben Gene wie ein Schimpanse: Wer bin dann ich? Derartige Fragen werden hier zwar gestellt, bekommen aber nicht den nötigen Raum, um wirklich zu verunsichern oder zum Weiterdenken anzuregen.
Stattdessen thematisiert diese Bernhard-Version die wissenschaftlichen Implikationen der zugrundeliegenden Thematik und wischt sie dabei gekonnt zur Seite, indem er lieber Genpool-Memory spielt, als sich mit den seine Existenz bestimmenden ethischen Problemen auseinanderzusetzen. Dass es noch andere von ihm gibt, beunruhigt ihn kaum, und so wie das inszeniert wird, ist man geneigt, ihm zuzustimmen: Ist doch alles halb so wild.
Die Schauspieler tragen Strampelanzüge, die nahelegen, dass sie bereits aufgegeben haben, und die Bühne ist der Breite nach durch eine Plexiglasscheibe getrennt, die den bespielbaren Bereich begrenzt und deren Oberfläche das kalte Licht des Abends auf eine Art und Weise reflektiert, die der ganzen Bühne das anonym-medizinische Ambiente eines Labors verleiht. Die einzelnen Szenen, die in ihrer Stringenz teils recht lose aneinandergereiht sind, werden naheliegenderweise wiederum durch „Blacks“ voneinander getrennt, ein elektronischer Klangteppich wird in diesen Momenten bis zum Anschlag aufgedreht, die Bässe wummern aufdringlich und bestärken die bedrückende Atmosphäre zusätzlich. In ihrer schonungslosen Wucht erzählen sie dabei teils mehr, als es die Inszenierung selbst vermag.
Hörlin entscheidet sich zwar für einen psychologisch-realistischen Zugang, doch wo schon der Text nicht genug Tiefe bietet, flüchtet sie sich bereitwillig in Klischees, Slapstick, Licht- und Toneffekte, die ein drohendes Unheil spürbar werden lassen, das letzten Endes jedoch ausbleibt. Man verlässt den Saal in der Gewissheit: Mit mir hat das alles nichts zu tun.
Informationen zur Inszenierung
Nächste Vorstellung:
Donnerstag, 18. April 2019
Donnerstag, 16. Mai 2019