Oskar Panizza hat Die Menschenfabrik (1890) noch vor George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Brave New World verfasst. Seine Erzählung ist sowohl eine erschreckende Dystopie als auch ein philosophisches Traktat für mehr Menschlichkeit und Ethik in einer auf wirtschaftlichen Erfolg bedachten Welt.
von ALINA WOLSKI
Wenn ein Wanderer in einer Winternacht… Nein, mit Italo Calvino hat die Menschenfabrik nur wenig zu tun – auch wenn der Beginn zu Verwechslungen einlädt. Der Ich-Erzähler ist in Mitteldeutschland unterwegs, als er sich nach einer Bleibe für die Nacht umsieht. Das nächste Gebäude, auf das er trifft, stellt sich als eine Menschenfabrik heraus. Der Fabrikleiter führt den Ich-Erzähler herum und zeigt ihm die Prozesse zur Herstellung neuer, künstlicher Menschen ohne Gefühle. Sie kommen fertig „gebacken“ und gekleidet aus dem Ofen.
Zunächst versucht der Ich-Erzähler, den Leiter von der Unmenschlichkeit der Fabrikation mittels philosophischer Diskussionen zu überzeugen. Doch letzterer kann mit Philosophie nichts anfangen. Es handelt sich bei der Fabrik um einen Raum, in dem Ethik nicht existiert, in dem für Philosophie kein Platz ist, in dem nur der höchste Nutzen bei geringstmöglichen Kosten zählt. Schließlich endet der unliebsame Besuch in der Fabrik auf komische und frappierende Weise. Die Menschenfabrik lässt die Frage offen, wo die Grenze zwischen Realität und Imagination, Mensch und Maschine wirklich liegt.
Leerer Kopf und Schönheitsdiktatur
Der Erzählung aus dem Jahr 1890 ist ein Vorwort von Joachim Bessing von 2018 vorangestellt. Zu Recht stellt dieser fest, dass Die Menschenfabrik trotz ihres Alters von 128 Jahren immer noch aktuell ist. Es scheint so, als hätte Panizza ähnlich wie Mary Shelley Genmanipulation, Designerbabys, Künstliche Intelligenz und das Streben nach körperlicher Perfektion vorausgeahnt. Alle neu erschaffenen Menschen sind äußerlich perfekt. Doch das ist auch schon alles. Sie sind nicht mehr als ihre äußere Hülle. Dabei beklagt der Ich-Erzähler zu Beginn des Gesprächs mit dem Fabrikleiter, manchmal zu viel und an Dinge denken zu müssen, an die er gar nicht denken möchte. Wie gut wäre es da, mal einen leeren, ruhigen Kopf zu haben? Die Menschenfabrik setzt diese Vorstellung radikal um. Es handelt sich bei ihr de facto um eine Schönheitsmanufaktur. Und die Erzählung scheint den Schönheitswahn zu kritisieren – äquivalent zu Juli Zehs Einspruch gegen die Gesundheitsdiktatur in ihrer Dystopie Corpus Delicti.
Angst, Ekel und Grausamkeit
Beständig schwingen in der Menschenfabrik Angst, Ekel und Traurigkeit mit. Angst und Ekel vor den leblosen Maschinen – und Mitgefühl mit ihnen. Das Empfinden des Ich-Erzählers stellt sich demnach als divergent dar: Sein Gemütszustand wandelt sich von Situation zu Situation stark. So meint der Protagonist in einem Moment sogar, Liebe zu einem der künstlichen Menschen in der Fabrik fühlen zu können. Als er merkt, dass der Fabrikleiter direkt hinter ihm steht, ist er allerdings nur noch von allem angewidert und verlässt die Räumlichkeiten vollkommen überstürzt. Er versinnbildlicht durch seine eigene Gefühlswelt den echten Menschen mit seinen widersprüchlichen Emotionen, Ansichten und Moral. Die Worte des Ich-Erzählers stehen so im vollkommenen Einklang mit ihm selbst.
Dieser Kontrast lässt den Leser erschaudern. Er rüttelt ihn wach und stellt ihm vor Augen: Der Reisende ist der wirkliche Mensch. Die Fabrikate haben nichts Menschliches mehr an sich. Hier liegt die ethische Grenze. Wer es wagt, sie zu übertreten, handelt wie der Fabrikleiter, der die Kühnheit besitzt, auch noch eine Mark für den Anblick dieser Grausamkeiten zu fordern. Doch der Schluss lockert die Vorwürfe wieder ein Stück auf. Er ruft zum Nachsinnen auf über die roten Linien in Wissenschaft sowie Gesellschaft und verurteilt den voreingenommenen Blick des Lesers. Damit kommt die Neuauflage der Erzählung genau zur richtigen Zeit: Die Menschenfabrik besitzt das Potenzial, einen gesellschaftlichen Diskurs über ein nach wie vor sehr aktuelles Thema anzustoßen. Mit dem aufschlussreichen Vorwort von Joachim Bessing ist es eine Veröffentlichung, die zur Schullektüre wie geschaffen scheint. Sollte sie es nicht den Weg in die Klassenzimmer finden, so gehört sie doch zumindest in jedes Bücherregal.
Oskar Panizza: Die Menschenfabrik. Mit einem Vorwort von Joachim Bessing
Hoffmann und Campe, 64 Seiten
Preis: 14,00 Euro
ISBN: 978-3-455-00581-3