Mad World…

"Orest in Mossul" am Schauspielhaus Bochum Foto: Fred Debrock

“Orest in Mossul” am Schauspielhaus Bochum Foto: Fred Debrock

International, multimedial und im erschreckend aktuellen Kontext feiert Orest in Mossul Bochumer Premiere am Schauspielhaus. Der preisgekrönte Regisseur Milo Rau versetzt die Motive der antiken Tragödie des Aischylos in das irakische Mossul der Gegenwart. Weltpolitik trifft auf persönliches Schicksal, wenn die Konsequenz der Realität Gewalt ist. Die Schrecklichkeit erscheint in ihrer eigenen Ästhetik und trifft direkt ins Herz.

von JASMIN GIERLING

Die Orestie erzählt einen Zyklus des Mordes. Zu Beginn des Trojanischen Krieges wird Iphigenie von ihrem Vater Agamemnon geopfert, damit dieser einer Windstille auf hoher See entgehen und seine Fahrt nach Troja fortsetzen kann. Als Agamemnon nach zehn Jahren im Krieg wiederkehrt, wird er für diese Tat von seiner Frau Klytaimnestra ermordet. Diese wiederum stirbt dafür durch die Hand des eigenen Sohnes Orestes. Der brutale Kreislauf findet hier jedoch ein Ende: Eine demokratische Abstimmung mit juristischen Zügen soll über Orestes Schuld oder Unschuld entscheiden. Letztendlich muss Athene die ausschlaggebende Stimme abgeben und der Mörder wird freigesprochen. Obwohl vorher Orestesʼ Tat gerächt werden sollte, kann Athene die Situation mit dem Ziel eines friedvollen Zusammenlebens entschärfen.

Die Inszenierung zeigt eine Zusammenfassung des essenziellen Motivs dieser antiken Tragödie: blutige Rache. Sie bedient sich der Ambivalenz von Opfer und Täter, die sich in den einzelnen Figuren des Stücks vereint. Die Rachemorde der Figuren werden auf der Bühne ebenso erzählt wie autobiografische Schicksale, während Videoaufnahmen aus Mossul, die bei den Proben im Irak entstanden, diese persönlichen Geschichten belegen. In Bochum nur noch bis zum 30.05.2019 zu sehen, wurde Orest in Mossul jedoch bereits als Koproduktion mit dem NT Gent im April dort uraufgeführt. Auf Niederländisch, Arabisch und Englisch mit deutschen und englischen Übertiteln präsentiert sich das internationale, großartige Ensemble.

Rau schafft einen Diskurs zwischen der Theaterbühne, der realen Tragik im irakischen Krisengebiet und dem antiken Stoff. Dabei wird deutlich, dass sich seit 458 v. Chr., als Aischylos diese Tragödie verfasste, auf der Welt in dieser Hinsicht kaum etwas verändert hat. Wird die politische Situation im Nahen Osten am konkreten räumlichen Beispiel Mossul mit einem spezifischen Stoff konfrontiert, der bereits so lange besteht, parallelisieren sich die Geschichten. Visuell wird dies durch Videoaufnahmen, die Bilder des zerstörten Mossuls sowie inszenierte Kommentare zur Geschichte der Stadt oder Szenen aus der Orestie unterstützt. Die Leinwand dient als Bühne in der Fremde, die Schauspieler agierten während des Drehs in Mossul und führen dies in Bochum fort. Begleitender Soundtrack in leisen Pianotönen ist Gary Julesʼ Mad World. Die Distanz beider Orte wird deutlich, indem die Darsteller parallel im Video und auf der Bühne zu sehen sind und diese beiden Schauplätze aktiv zeigen: Mossul und Bochum treten in der Inszenierung in Kommunikation. Dass diese vorher verschriftlicht wurde, schadet dem Abend keineswegs.

"Orest in Mossul" am Schauspielhaus Bochum Foto: Fred Debrock

“Orest in Mossul” am Schauspielhaus Bochum Foto: Fred Debrock

„Ein Leben für ein Leben“?

Wenn selbst eine Stadt wie Mossul fällt und antike Architekturen als junge Ruinen der Schauplatz bloßer Erinnerung an vergangenes Leben sind, scheint selbst das Wort „Tragödie“ zu schwach. In wenigen Jahren wurde den Bewohnern der ehemals „größten Stadt der Welt“ durch den Islamischen Staat ihr Zuhause geraubt. Eine Schuldzuweisung wirkt hier eindeutig, Täter und Opfer sind klar voneinander zu trennen. In der Inszenierung wird dieses reale Schicksal einer Stadt parallel mit der blutigen Orestie erzählt. „Rache begehrt Rache“ ist aber nicht die Botschaft von Orest in Mossul. Das Darstellen einer Biografie, die das Leben im Krieg in Mossul offenlegt, wechselt sich mit Mordszenen aus dem antiken Stoff ab. Schonungslos wird der brutale Tod gezeigt, ob durch das gespielte Erwürgen von Iphigenie (vielseitig: Susana Abdulmajid) durch Agamemnon (souverän gespielt von Johan Leysen) oder durch die Bilder oder Re-Enactments der zerstörten Millionenstadt. Fast schon überzeichnete Mordszenen auf der Bochumer Bühne und die Anspielung auf den Stereotyp einer Patchwork-Familie legen eine groteske Komik über die sonst so brutale Tragödie. Das Inszenierte wird als solches nicht versteckt. Teilweise ist unklar, ob die Schauspieler sich selbst, eine Figur, die im Irak war, oder eben eine aus der Orestie verkörpern. Besonders Bert Luppes und Duraid Abbas Ghaieb schaffen es, die Interaktion mit den Videos als besondere Stärke der Inszenierung zu zeigen und können so kaum als eine bestimmte Rolle gesehen werden. Diese verschwindenden Grenzen zeigen bereits die Unmöglichkeit der Kategorisierung in etwas wie Gut und Böse; Schuld oder Unschuld.

Sehnsucht nach friedlicher Endgültigkeit

Rau schafft es, im Massenmord die Individuen zu zeigen und dabei den brutalen Tod in keinster Weise zu verherrlichen. Dieses dokumentarische Abbild der Grausamkeit lässt niemanden kalt, besonders, da kein Urteil fallen kann. Schwarz-Weiß-Denken wird durch das Verzeihen der Opfer übermalt. Die Geschichte der gescheiterten Demokratie in Mossul endet, wo der Beginn des kooperativen Politiksystems in der Orestie beginnt. Betroffene, Opfer vergeben – Orestes wird freigesprochen. Der Wunsch nach dem Ende des Krieges ist das Ende dieses Abends. Die so reale Grausamkeit wird durch die Größe des Verzeihens überwunden. Wie Milo Rau die Verbindungen der Tragödien knüpft, erscheint logisch, trotzdem bleibt die Fassungslosigkeit über das Schicksal Mossuls nicht aus. Es wird Distanz zu den von Rache Getriebenen gewahrt, ohne die Gewalt zu verfälschen oder zu bewerten. Die Inszenierung stellt keine großen Fragen, lässt kaum Spielraum für Interpretation, weshalb umso deutlicher der moralische Appell zutage tritt. Der brachiale Zyklus zieht weiter seine Kreise in der Weltpolitik. Im inszenierten Zeigen einer für den Großteil des Bochumer Publikums wohl fremden Wirklichkeit bleibt ein Schauer über menschliche Brutalität und Begeisterung für den einzigartigen Abend.

 

Informationen zur Inszenierung
 
Nächste Vorstellungen:
Mittwoch, der 22.05.2019
Donnerstag, der 24.05.2019
Freitag, der 25.05.2019

 

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