
Michel Houellebecq: Serotonin Cover: DuMont
Vier Jahre nach seinem viel diskutierten, längst für die Bühne und das Fernsehen adaptierten Bestseller Unterwerfung legt der Skandalautor Michel Houellebecq seinen neuen, unerwartet intimen Roman vor: Serotonin. Viel ist im Feuilleton auch über diesen bereits gesagt und geschrieben, sein Autor als genialer „Seismograph“ und „Visionär“ bejubelt worden. Dabei offenbart Serotonin unübersehbare literarische Schwächen, Einfallslosigkeit – und mitunter geistige Blutleere.
von HELGE KREISKÖTHER
Michel Houellebecq (Jahrgang 1958) gehört zweifellos zu den einflussreichsten Gegenwartsautoren und dürfte Bücherfreunden auf dem gesamten europäischen Kontinent, wenn nicht gar weltweit bekannt sein. Seine literarischen Erkennungsmerkmale sind die Provokation, der – keinesfalls rein politische, sondern mit Vorliebe tief soziologisch-biologische – Tabubruch und die Sexualisierung zwischenmenschlicher Erbärmlichkeiten. Spätestens seit dem Erscheinen von Les Particules élémentaires (Elementarteilchen) im Jahr 1998, jenem Roman über den sexbesessenen Lehrer Bruno und den asexuellen Molekularbiologen Michel, genießt der Franzose daher den Ruf eines Enfant terrible der französischen Buchszene. 2001 folgte dann Plateform (Plattform), 2005 das Science-fiction-Werk La possibilité d’une île (Die Möglichkeit einer Insel), 2010 La carte et le territoire (Karte und Gebiet) sowie 2015 die schon angesprochene, in ihrer Komplexität weder islamophobe noch islamophile Soumission (Unterwerfung). Zahlreiche kleinere Texte, Essays und Gedichte (deutschsprachig allesamt bei DuMont erschienen) einmal außen vor gelassen.
Protagonistin des zu Jahresbeginn in Paris erschienenen Romans Serotonin ist streng genommen „eine kleine weiße, ovale, teilbare Tablette“, auf die im Fortlauf des relativ handlungsarmen, aber reflexions- und reminiszenzreichen Textes immer wieder Bezug genommen wird. Es handelt sich hierbei um Captorix, ein vergleichsweise neues, vielversprechendes Antidepressivum, das den Serotoninspiegel anhebt, dabei jedoch eine – besonders für Houellebecq’sche Protagonisten niederschmetternde – Nebenwirkung mit sich bringt: die Reduzierung von Testosteron und somit eine beinah vollständige Tilgung der Libido. So kommt es, dass sich dieses Buch nicht aufs Flachlegen konzentriert, sondern in mal mehr, mal weniger poetischen, zu 90 Prozent tieftraurigen Endlosschleifen über die Liebe, verpasste Lebens- und Karrierechancen räsoniert. Das Übel der turbokapitalistischen Welt wird konsequent mit subjektiven Versagensängsten in Verbindung gebracht, Hasstiraden auf Zeitgenossen, die ihrer menschlichen Empathiefähigkeit beraubt scheinen, lassen nicht lang auf sich warten. Aber kein Grund zur Sorge: Muschis, Schwänze und enge Ärsche gibt es auch in diesem Midlife-Crisis-Houellebecq en masse, denn „mit Sex kann alles gelöst werden, ohne Sex gar nichts mehr“.
Das unlösbare Problem mit der Liebe
„Frauen sind Schlampen […] aber das Arbeitsleben ist eine noch viel gehörigere Schlampe, die einem dabei nicht mal Lust bereitet“, so die Überzeugung des 46-jährigen Serotonin-Protagonisten Florent-Claude Labrouste, der sein Geld im französischen Landwirtschaftsministerium verdient – in jüngeren Jahren hatte er Erfahrung bei Monsanto gesammelt – und von hier aus den unabwendbaren Abstieg der normannischen Milchbauern mitansehen muss. Davon abgesehen liebt Labrouste raffinierte Humussorten, kann seine „schwuchteligen“ botticelli-artigen Vornamen nicht ausstehen und sieht sich, ausgerechnet in jenem Alter, in dem Nerval sich erhängte und Baudelaire seinen kläglichen Tod fand, schlichtweg am Ende angekommen: am Ende seines beruflichen Strebens, am Ende seiner Beziehung mit Yuzu (einer luxusverwöhnten, heimlich in seiner Wohnung Bukkake-Videos produzierenden Japanerin), am Ende seines Glaubens an irgendeine Bedeutung und Sinnfindung.
Folglich beschließt Florent-Claude, aus Paris abzuhauen und buchstäblich das Weite zu suchen. Er lebt wochen-, ja monatelang in Hotels und beschränkt seine zwischenmenschlichen Kontakte auf seinen Arzt und Aymeric, einen dem Alkohol verfallenen Studienfreund, der schließlich bei einer Schießerei mit der Bereitschaftspolizei auf der Autobahn einen „heroischen“ Tod gegen die Ungerechtigkeit der Regierung bzw. Globalisierung stirbt – die Gelbwesten-Proteste prophetisch vorweggenommen. Den größten Raum nehmen, wie angedeutet, allerdings die Erinnerungen an die verflossenen Geliebten ein, an Claire, Kate und vor allem an Camille. So wird dem Captorix-Patienten in seiner Existenz- und Potenzkrise bewusst, dass die Reue über ungenutzte Chancen im Leben kaum zu ertragen ist. Reizvollen Analverkehr findet man eben schneller als eine dauerhafte, von gegenseitigem Verständnis geprägte, gänzlich erfüllende Beziehung.
Erkenntnisgewinn? – Fehlanzeige
Die emotionale Intimität, die unerbittliche Ehrlichkeit und nicht zuletzt die gut recherchierte und plausibel dargelegte Entwicklung einer Depressionserkrankung sind die Stärken dieses neuen Houellebecq-Romans. Die stupiden Gemeinplätze über Liebe, die Gesellschaft und die vermeintlichen Bedürfnisse des weiblichen Geschlechts, die willkürlichen gedanklichen Abschweifungen des Protagonisten, der monotone Lobgesang auf Sex (zumindest solange Florent-Claude zu diesem hormonell noch fähig ist) sowie eine überflüssige Zitiererei großer „Leidensgenossen“ verderben den Lesegenuss jedoch um ein Beträchtliches. Florent-Claude betreibt die Literatur im Gegensatz zum Dozenten François, der Hauptfigur aus Unterwerfung, nicht beruflich; deshalb wirken seine regelmäßigen gedanklichen Bezüge zu diversen Philosophen und Literaten aus der Luft gegriffen. Der komparatistisch versierte Leser mag sich freuen – sinnstiftend sind die Epikur-, Dante-, Rousseau-, Marquis-de-Sade-, Goethe-, Chateaubriand-, Gogol-, Sir-Arthur-Conan-Doyle- und Thomas-Mann-Verweise hingegen leider nicht. Und was in drei Teufels Namen verleitet zu der Annahme, dass Marcel Proust, hätte er das 21. Jahrhundert noch miterlebt, auf Rihanna „steil gegangen“ wäre? Bestenfalls amüsante Unsinnigkeiten wie diese muss man auf den knapp 350 Seiten, die Stephan Kleiner (wie schon 2017 In Schopenhauers Gegenwart) meisterhaft ins Deutsche übertragen hat, des Öfteren aushalten – genauso wie die etwas zu verständnisvolle Beschäftigung des Protagonisten mit den perversen Amateuraufnahmen eines pädophilen Vogeltouristen.
„[E]s war nur so gewesen, dass da eben nichts gewesen war, dass meine von Beginn an begrenzte Anhaftung an die Welt immer weiter geschwunden war, bis nichts mehr das Abgleiten verhindern konnte“, so eine der zahlreichen, stilistisch unterirdischen Selbstauskünfte in Serotonin. Bleibt die Frage, was Florent-Claude Labrouste von den anderen unzähligen Depressiven und Selbstmördern der (jüngeren) Weltliteratur unterscheidet, deren Urheber bisweilen noch um einiges einfallsreicher in der Darlegung tragischen individuellen Scheiterns waren als Houellebecq mit seinem neuen Roman. Die abschließenden Zeilen überraschen dann wiederum tatsächlich durch eine plötzliche, untröstliche wie untypische Identifizierung mit dem Gottessohn: „Und heute verstehe ich den Standpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen […] Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben? Muss man wirklich so deutlich werden?“
Michel Houellebecq: Serotonin
DuMont, 330 Seiten
Preis: 24,00€
ISBN: 978-3-8321-8388-2
Auf mich wirkte dieser Neue gerade wie aus einem Houellebecq-Baukasten. Und die Selbstwidersprüche des Protagonisten nun endgültig wie ein Schutzschild, um einfach nur abätzen zu können…
Frühere Houellebecqs waren einerseits so gebaut, dass die Unzuverlässigkeit der Erzählung erst mit der Zeit überhaupt wirklich in den Blick rückte (und viele Leser übersahen sie ja auch), Serotonin dagegen trägt von Anfang an so dick auf, dass man selbst diesen Kniff kaum noch ernst zu nehmen geneigt ist. Und dann bleibt im besten Fall ein dahinplätschern der Roman, der selbst die “politischen” Fans des Autors, die sich eh lieber mit den Protagonisten identifizieren, als das Spiel mit Vieldeutigkeiten zu genießen, langweilen dürfte.
Immerhin, das ist neu. Langweilig war Houellebecq bisher nicht.
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