Passend zur Jahreszeit bietet das Reclam-Bändchen Herbstgedichte einen Querschnitt der deutschsprachigen modernen Lyrik. Das Wechselspiel von motivischer Varianz bei zugleich einsetzender Kategorisierung der Gedichte fügt sich in ein stimmiges Gesamtkonzept, von dem eigentlich auch Lyriklaien profitieren könnten – würden diese nur nicht auf weiter Herbstesflur allein gelassen…
von THOMAS STÖCK
Es ist wieder so weit: Die Tage werden kürzer, des Nachts legt sich der erste Frost auf Wiesen und Felder und überall türmt sich das von den Bäumen herabfallende Laub. Der Herbst setzt ein – gemäß dem Reclam-Bändchen Herbstgedichte steht diese Jahreszeit für „Farbenpracht, die Wärme letzter Sonnentage, Melancholie, […] eine dankbare Rückschau auf das Vergangene“. Grund genug für den Reclam-Verlag, selbst eine Rückschau auf die deutschsprachige Lyrik der vergangenen 250 Jahre (der 1762 geborene Johann Gaudenz von Salis-Seewis ist der älteste aufgeführte Dichter) zusammenzustellen. Mit anderen Worten, unter diesem Buchdeckel finden sich Dichterinnen – derer immerhin 13 an der Zahl – und Dichter eines so farbenfrohen Epochenspektrums wie das Blätterkleid eines Walds im Herbst. Doch genug der schiefen Vergleiche.
Wie bereits die genannten Assoziationen vermuten lassen, kristallisieren sich textübergreifende Elemente heraus, auf die die Autoren immer wieder gern rekurrieren. Der Vogelflug nach Süden, repräsentiert durch Storch, Schwalbe, Kranich und Gans, ist dabei beliebter als die Arbeit zur Erntezeit. Je nach Stimmungslage werden die Farben des Herbstes mal farbenfroh gedeutet – „Gelb die Stoppelfelder / […] Rote Blätter fallen, / Graue Nebel wallen“, „Purpurfarbig“ die Weintrauben, „Pfirsiche mit Streifen / Rot und weiß“, „goldne Quitten“ in Salis-Seewis’ Herbstlied –, oder aber es wird eine „alte Wehmutsweise“ angestimmt, denn „schon fallen leise Silberzähren“ und es macht sich der erste „Reifsilber“ bemerkbar wie in Gerhart Hauptmanns Blätterfall. Bei dieser Gemengelage bietet es sich an, dass – wie von den Herausgeberinnen Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell umgesetzt – die Gedichte kategorisiert werden. So folgt auf die „Herbst-Bilder“ das Kapitel „Alljährlich im Herbst“, um in die „Herbst-Gedanken“ zu münden. Auftakt und einen „Hilfreiche[n] Nachsatz“ bilden ebenfalls Gedichte, die jedoch weitere Jahreszeiten (Eugen Gomringers es – immer wieder gelingt es) bzw. alle Monate des Jahres (Christian Morgensterns Wie sich das Galgenkind die Monatsnamen merkt) zum Erzählgegenstand erheben.
„Wie schön sich Bild an Bildchen reiht“
Die Kategorien sind sinnig, stimmig, aber eben auch allgemein genug, dass innerhalb eines jeden Kapitels von Gedicht zu Gedicht genug Variation anzutreffen ist. Zugute kommt dem Erzählband dabei die nicht-chronologische Anordnung der zum Großteil kanonischen Autoren. Wenn zwischen Dichtern der Nachkriegszeit wie Marie Luise Kaschnitz und Peter Huchel ein Angehöriger des deutschen Realismus wie Theodor Storm steht, so ist es nur konsequent, dass auf Rainer Maria Rilke ein Friedrich Hölderlin folgt. Wichtiger als eine Chronologie ist die ästhetische Abfolge der Bilder, die dem Leser die Vielseitigkeit des Herbstes und der Lyrik zum Thema Herbst offenbart. Passend formuliert Georg Trakl zugleich seine Sicht auf den Verklärten Herbst und das Sujet des Gedichtbands: „Wie schön sich Bild an Bildchen reiht“.
Die Auswahl der Gedichte arbeitet zielstrebig auf eine Charakterisierung des Herbstes hin, wie sie bereits im Klappentext umrissen wird: Der Herbst scheint als Bedeutungsträger irgendwo zwischen dem Sommer, hehren Wünschen und großer Liebe auf der einen Seite und dem nahenden Tod von Natur und eitlen Schwärmereien auf der anderen Seite zu rangieren.
Oberflächliche Lektüre stiller Wasser
Doch haben es sich die Herausgeberinnen nicht ein wenig zu einfach gemacht? Als Einstiegslektüre könnte sich ein motivisch leicht nachzuvollziehender Band wie der vorliegende trefflich eignen – dazu bedürfte es jedoch einer Einführung in den Band oder eines Kommentars zu einzelnen Gedichten. Möglicherweise gelingt es Laien ja noch, den Celan-Vers „ein Boot knospt im Regen“ (aus Talglicht) als ein auf einem Gewässer treibendes Blatt zu identifizieren. Erklärt ist damit aber noch nicht der Grund für Stefan Georges eigentümliche Schreibweise oder Eugen Gomringers Zeichensetzungsabstinenz. Auch Detlef Opitz’ lieblos eingefügtes Figurengedicht hätte in einer besseren Reproduktion deutlich mehr Aufsehen erregen können. So stellt sich am Ende die Frage, ob der geneigte Leser überhaupt vollumfänglich in die dargebotenen Gedichte eintauchen kann oder ob seine Lektüre nicht an der Oberfläche dieses stillen Wassers namens Lyrik verhaften muss.
Herbstgedichte. Ausgewählt von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell
Reclam Verlag, 86 Seiten
Preis: 5,00 Euro
ISBN: 978-3-15-011241-0
schön…