Ein neuer Ruhrpott-Lohengrin

Nachdem es im Dezember 2016 bereits eine aufsehenerregende Lohengrin-Premiere am Essener Aalto-Theater gab, legt Schauspiel- und Musiktheater-Regisseur Ingo Kerkhof nun seine Interpretation dieser wahrscheinlich romantischsten aller Wagner-Opern im Theater Dortmund vor. Atmosphärisch dichte Bilder, aber auch eine beglückende Sängerbesetzung rund um Daniel Behle in der Titelrolle sowie zupackende Dortmunder Philharmoniker sorgen für eine Vorstellung mit einem ungewöhnlich hohen ästhetischen Wert.

Theater Dortmund, Spielzeit 2019-2020, Lohengrin; Romantische Oper in drei Akten von Richard Wagner

von HELGE KREISKÖTHER

Bevor Richard Wagner 1865 mit Tristan und Isolde die zeitgenössischen Ohren erschütterte und er sich an die jahrzehntelange Arbeit an seinem Mammutprojekt, dem vierteiligen Ring des Nibelungen, machte, komponierte er in seiner romantischen Hochphase drei Opern, die (bei aller Vorsicht vor diesen Adjektiven) noch etwas traditioneller und musikalisch „nachvollziehbarer“ daherkommen: Der fliegende Holländer, Tannhäuser und Lohengrin. Letzterer erlebte seine Uraufführung 1850 in Weimar mit Franz Liszt am Dirigentenpult, während Wagner verdrossen im Revolutionsexil in der Schweiz festsaß. Heute gehört Lohengrin zu den meistgespielten deutschsprachigen Opern weltweit – die Orchestervorspiele oder der Brautchor aus dem dritten Akt (Treulich geführt…) sind auch fernab der Bühne zu Repertoireklassikern geworden.

Im Zentrum der mittelalterlichen Handlung steht Elsa von Brabant, die der finstere Graf Telramund zu Unrecht des Brudermords bezichtigt. Als sie sich vor König Heinrich dem Vogler und seiner Rechtsprechung verantworten muss, beruft sie sich auf einen geheimnisvollen Schwanenritter, der für sie in den Zweikampf ziehen und somit ihre Unschuld beweisen soll. Tatsächlich erscheint daraufhin, wie aus dem Nichts, Lohengrin genau zum richtigen Zeitpunkt – er besiegt Telramund, schenkt ihm aber das Leben und nimmt Elsa zur Frau. Als Bedingung stellt der Fremde jedoch, dass die Geliebte ihn niemals nach Namen und Herkunft fragen darf. Es kommt, wie es kommen muss: Befeuert von Telramunds Gattin, der rachgierigen Ortrud, siegt das Misstrauen über Elsa und sie bricht das Tabu. Lohengrin, Gralsritter und Sohn des Parzival, muss nun seine Identität aufdecken und sich auf ewig verabschieden. Elsa stirbt beim Betrachten des fortschwimmenden Schwans.

Eine Partitur, die es in sich hat

Schwelgt man in diesem märchenartigen Setting und der Wagner’schen Orchestrierung, kann man Thomas Mann zufolge eine „blau-silberne Schönheit“ oder, nach Nietzsche, „narkotische“ Zustände erleben. Wenn diese Sphären auch nicht jedem zugänglich sein mögen, so dürfte nach knapp vier Stunden Lohengrin wohl niemand ohne ein irgendwie erhabenes Gefühl zurückbleiben. Damit sich dieses einstellt, braucht es zuvorderst – wie bei allen Opern und bei Wagner ganz besonders – stilsichere, artikulatorisch saubere und nicht zuletzt ausdauernde Sänger und Musiker. Diese Grundvoraussetzungen werden in Dortmund mehr als nur erfüllt: Während Gabriel Feltz, schon seit der Spielzeit 2013/14 Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker, sein Orchester feinsinnig, aber auch mit der nötigen Verve und Zielstrebigkeit durch die drei Akte führt, begeistert der Opernchor Theater Dortmund (Einstudierung: Fabio Mancini) nicht minder. Über den gesamten ersten Akt und auch später immer wieder positioniert er sich auf den äußeren Balkonen des Rangs und sorgt somit, zusammen mit den Fanfaren links und rechts aus dem Foyer, für einen volltönenden „Dolby-Surround“-Klang – ein kluger Einfall, ob von Dirigent oder Regisseur, da der Chor im Lohengrin nicht rein dekorativ, sondern bedeutungstragend ist.

Den Schwanenritter singt in Dortmund der aus Hamburg stammende Tenor Daniel Behle, in der Klassikszene längst kein unbekannter mehr, obgleich er bislang eher als lyrischer Gluck-, Mozart- oder Schubert-Sänger hervorgetreten ist. Vielleicht macht gerade dies sein Timbre so einmalig für Wagner: Ohne die Lohengrin-Partie mit strahlender Heldenhaftigkeit zu überfrachten, gestaltet Behle sie mit der Sensibilität eines Liedsängers, der Melancholie eines Schubert’schen Weltenwanderers. Von seinem Herannahen mit den Worten Nun sei bedankt, mein lieber Schwan bis hin zur großartigen „Gralserzählung“: Selten war Lohengrin ein musikalisch so empfindsamer Zeitgenosse. Ihm zur Seite steht die Sopranistin Christina Nilsson als zurückgenommene, in ihrer Rolle regelrecht sakral in Szene gesetzte Elsa. Bass Shavleg Armasi (als souveräner König Heinrich), Bariton Joachim Goltz (als gerissener Telramund) und Bassbariton Morgan Moody (als Heerrufer mit Showmaster-Qualitäten) beweisen ihre stimmlichen, gleichermaßen darstellerischen Qualitäten. Als Traumbesetzung erweist sich wiederum Stéphanie Müther alias Ortrud, denn sie verkörpert viele Facetten zugleich: rachelüsterne Lady Macbeth, heidnische Hexe, sinnliche Femme fatale – weit mehr als nur „böse“.

Was vermag der Dortmunder Schwan?

Die psychologisierende Essener Inszenierung von Tatjana Gürbaca ist vor drei Jahren zwiespältig aufgenommen, von vielen sogar geächtet worden. Ein Teil des Dortmunder Premierenpublikums buhte auch Kerkhof und sein Inszenierungsteam aus, während die Sänger und Gabriel Feltz einhellig bejubelt wurden. Diese „Empörung“ darf jedoch schlichtweg unverständlich, wenn nicht gar irrsinnig genannt werden, denn der Lohengrin im Theater Dortmund überzeugt eben nicht nur musikalisch, sondern auch aufgrund seiner eindringlichen, intimen, oft sehr dunklen Bilder (Bühne: Dirk Becker), die – auch mittels der Kostümierung (Jessica Rockstroh) – Assoziationen zum Biedermeier und seinen unverwechselbaren Interieurs wecken. Wie die Figuren mit subtilen Lichtstimmungen voneinander abgegrenzt bzw. aufeinander bezogen werden (Licht: Florian Franzen) oder wie sie in und vor einem Zimmer interagieren, das im Laufe der Handlung scheinbar stetig anwächst und letztlich doch wieder einengend zusammenschrumpft, wirkt im Kontrast dazu wiederum zeitlos.

Störten sich manche etwa an den eingeblendeten Fremdzitaten, z. B. aus dem Märchen Brüderchen und Schwesterchen? An den Lohengrin-Elsa-Doubles im Hintergrund oder an den (völlig unanstößigen) Videoprojektionen mit einer kindlichen Elsa am Suppentisch (Video: Philipp Ludwig Stangl)? Als winzigen optischen Wermutstropfen könnte man höchstens die naturalistischen Ackerstoppeln im Vordergrund bemängeln. Doch manchen Opernbesuchern kann man es inszenatorisch bekanntlich nicht recht machen. Kerkhofs Lohengrin markiert dennoch den in jeder Hinsicht vielversprechenden Auftakt zur Dortmunder Reihe Wagner Kosmos I, die 2020 außerdem zwei selten gespielte Juwelen der französischen Operngeschichte präsentieren wird: Die Stumme von Portici von Daniel-François Auber und Fernand Cortez von Gaspare Spontini.

Informationen zur Inszenierung https://www.theaterdo.de/detail/event/2269/?not=1

Nächste Vorstellungen:

Sonntag, der 8. Dezember
Samstag, der 14. Dezember
Sonntag, der 12. Januar

 

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