In der Casa des Schauspiels Essen wird Ibsens Peer Gynt wieder- bzw. neuentdeckt. Neben dem großartigen Alexey Ekimov in der Titelrolle sind lediglich drei Darstellerinnen und ein Musiker zu erleben, die keine Langeweile aufkommen lassen. Regisseur Karsten Dahlem gelingt es dennoch nicht, einen Theaterabend zu schaffen, der über cineastische Inszenierungsstandards hinausgeht.
von HELGE KREISKÖTHER
Außerhalb seiner norwegischen Heimat werden Nora oder Hedda Gabler als Henrik Ibsens griffige, naturalistisch-feministische Dauerbrenner weitaus häufiger gespielt als der früher entstandene Peer Gynt (Uraufführung 1876). In aller Munde respektive Ohren ist hierzulande hingegen die von Edvard Grieg beigesteuerte Bühnenmusik mit Orchesterhits wie Morgenstimmung oder In der Halle des Bergkönigs. Dabei hat es dieses Ibsen-Stück auch ohne jede Vertonung in sich. Halb Märchen, halb Sozialdrama weist es auf die Symbolisten und auf das sogenannte Epische Theater Brechts hin. Die komplexen Verse, an deren Übersetzung sich z. B. Christian Morgenstern oder – wie in der Essener Inszenierung zu hören – Frank Günther versuchten, bedeuten eine Tour de Force für jeden, der sie auswendig lernen muss. Die zahlreichen Stationen auf Peers mehr oder minder unfreiwilliger Weltreise ermöglichen aber wiederum auch die eine oder andere Kürzung, sodass der „norwegische Faust“ relativ flexibel aufgeführt werden kann.
Der Peer–Gynt-Plot ist voller Szenenwechsel. Obwohl die alte Aase ihren Sohn bittet, die reiche Ingrid zu heiraten, flirtet Peer lieber mit Solveig. Empört über die allgemeine Ablehnung, die ihm entgegenschlägt, entführt er aber doch die mittlerweile verlobte Ingrid, um sie daraufhin im Gebirge sitzen zu lassen. Von Kirchenglocken aus dem Königreich der Trolle erlöst, baut er sich eine einsame Waldhütte und kehrt seiner Heimat nach dem Tod der Mutter den Rücken zu. Im Anschluss an einige Eitelkeitsepisoden in Nordafrika und einen brenzligen Schiffbruch kehrt er als Greis nach Norwegen zurück, trifft auf den unnachgiebigen Tod und stirbt schließlich in den Armen jener, die ihm als einzige treu geblieben ist – Solveig.
Es muss nicht immer Faust sein
Aus diesem Stück würde vermutlich jeder Regisseur etwas völlig anderes machen. Karsten Dahlem, der bereits so einiges auf die Bühne(n) des Essener Grillo-Theaters gebracht hat – etwa Die Leiden des jungen Werthers in der Spielzeit 2013/14 – setzt bei seinem Peer Gynt auf ziemlich konventionelle Mittel: viel Bewegung, reichlich Lärm, emotionalisierte Dialoge (Dramaturgie: Judith Heese, Simon Meienreis), Kamera-Nahaufnahmen, eine Menge Songeinlagen (natürlich englische) und viele poppige Lichtstimmungen (
Licht: Christian Sierau). All das kann einfallslos genannt werden, erweist sich jedoch als kurzweilig und erzeugt einige schöne Szenenbilder, die atmosphärisch zusätzlich an Intensität gewinnen durch eigens komponierte bzw. arrangierte Live-Musik mit Violine und E-Gitarre (Musiker: Christoph König) sowie Videoeinspielungen eines regelrecht leitmotivischen Rehbocks und anderer eher abstrakter Kulissen (Videografie: Hannes Francke).
Peer, seine Mitstreiter und Widersacher bräuchten eigentlich eine große Schauspielhausbühne, aber das nur vierköpfige Essener Ensemble vermag es, auch auf vergleichsweise engem Raum höchst lebendige, kontrastierende Momente zu schaffen. Der junge Alexey Ekimov verkörpert die Hauptfigur wild, mit Ausbrüchen bis zur Schmerzgrenze, hin- und hergerissen zwischen Begierde und (zu später, aber glaubwürdiger) Reue. Die Inszenierung lässt ihm dennoch nur wenig Raum, Peers Charakter peu à peu zu „entwickeln“: Weiberheld und Möchtegern-Kaiser – diese Facetten müssen scheinbar reichen. Die erfahrene Ines Krug spielt die besorgte, aber kaum vorbildtaugliche Aase, die Trollkönigin und den „Knopfgießer“, der für den Tod arbeitet, mit großer Souveränität. Silvia Weiskopf alias Solveig und Sabine Osthoff alias Ingrid, Trolltochter und Anitra haben zwar textlich gesehen nicht die bedeutendsten Rollen, gehen aber in ihren ambivalenten Gefühlen zu Peer vollends auf und bringen – vielleicht passend zur Vorweihnachtszeit – eine Menge Liebe ins Spiel.
Peer, quo vadis?
Schon klar: Peer ist der Seelenverwandte eines jeden Zuschauers. Denn waren wir diesem Hochstapler und Getriebenen jemals näher als in der globalisierten „postfaktischen“ Zeit? Umso bedauerlicher daher, dass die Essener Inszenierung massive Kürzungen vornimmt – Kürzungen, die das Drama beinah bis zur Unkenntlichkeit verzerren. Zirka eineinhalb Stunden reichen eben nicht aus für einen wirklich erschütternden, zumindest irgendwie berührenden, überdurchschnittlichen Peer Gynt. Schauspielerisch gibt es zweifellos tolle, im besten Sinne unterhaltsame Momente – z. B. die Mutter-Sohn-Begegnungen oder der Brautraub –, einen bleibenden Eindruck wird dieser Abend jedoch schwerlich hinterlassen. Einfälle wie Peers dekadenter Fatsuit oder seine Elvis-Dieter-Bohlen-Klaus-Kinski-Maskerade (Kostüme und auch Bühne: Franziska Sauer) wären grandiose Sequenzen in einem größeren Inszenierungsrahmen. In Dahlems Fassung wirken sie mitunter leider gewollt und, bei aller Liebe zum Entertainment, etwas zu grell.
Informationen zur Inszenierung https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/peer-gynt/
Nächste Vorstellungen:
Samstag, der 28. Dezember
Freitag, der 24. Januar