
Hye-Young Pyun: Der Riss; btb
Ogi, Professor für Geografie, erleidet auf dem Höhepunkt seiner Karriere einen schweren Schicksalsschlag: Bei einem von ihm verursachten Autounfall verstirbt seine Frau, er selbst wird zum Pflegefall. Trotz dieser dramatischen Ausgangssituation gelingt es Hye-Young Pyuns Roman Der Riss zu keinem Zeitpunkt, Empathie für die gesichtslosen Figuren beim Leser auszulösen. Doch vielleicht stehen gar nicht die Figuren im Zentrum, sondern die Schatten, die sie werfen…?
von THOMAS STÖCK
In den vergangenen Jahren erfreuten sich Geschichten über den Werdegang von Menschen, die in Folge eines Unfalls körperlich eingeschränkt sind, großer Beliebtheit. Die komödiantische Herangehensweise von Ziemlich beste Freunde (Orig.: Intouchables, 2011) begeisterte die Kinozuschauer, Ein ganzes halbes Jahr (Orig.: Me Before You, 2012) funktioniert prächtig als romantische Tragödie und selbst Ein wenig Leben (Orig.: A little Life, 2015) weiß trotz der überstrapazierten Dramatik, die seinen Protagonisten jede erdenkliche Qual durchleben lässt, auf emotionaler Ebene zu begeistern. Mit dem 2016 in Korea erschienenen und seit diesem Jahr in der deutschen Übersetzung erhältlichen Roman Der Riss scheint sich Hye-Young Pyun in ähnliche Gefilde zu begeben.
Doch wird man enttäuscht, wenn man sich mit einer solchen Erwartungshaltung Ogis Werdegang widmet. Schnell ist die Ausgangslage klar: Ogi ist erfolgreicher Geografieprofessor und mit seiner Frau glücklich verheiratet. Nach einer in Folge eines von ihm verursachten Autounfalls erlittenen Querschnittslähmung attestieren ihm die Ärzte, er könne nur aus eigener Kraft teilweise genesen. Ogi steht der Medizin sowieso feindlich gegenüber, vermochten es die Ärzte doch nicht, seine Mutter nach einem Suizidversuch zu retten. Mit seiner niederschmetternden Diagnose geht die Erkenntnis einher, dass bei dem Autounfall Ogis Frau tödlich verunglückte. In Rückblicken wird die schwere Kindheit mit dem Suizid der Mutter, Mobbing in der Schule und einem wenig liebevollen Vater angedeutet, aber nicht weiter expliziert. Dank der Oberflächlichkeit der dargestellten Ereignisse und der Funktionalisierung der Namen aller übrigen Figuren bleibt der Leser auf kritischer Distanz zum Protagonisten. Ogi steht allein da in der Welt, und relativ früh wird die Erkenntnis präsentiert, die so mancher Leser wahrscheinlich schon beim Lesen des Titels so erwartet hätte: „Wie kann sich ein Leben von einer Sekunde auf die nächste so dramatisch verändern? Wie fällt es auseinander, bekommt einen Riss […]?“ Die Karriere, die große Liebe, die eigene Gesundheit – alles ist mit einem Mal verloren.
Die gute, alte böse Schwiegermutter
Bis zu diesem Zeitpunkt liest sich das Buch wie ein mittelprächtiger Fernsehfilm, den man nur schaut, weil man beim Zappen hängengeblieben ist und es nicht rechtzeitig fertiggebracht hat wegzuschalten. Während man noch dagegen ankämpft, dass einem beständig die Augen zufallen, erwächst jedoch aus der Gefühlsduselei eine unerwartete Situation: Ogis Schwiegermutter, die ihre Tochter abgöttisch liebte, nimmt sich der Pflege des Geografieprofessors an. Unnahbar wirkt sie; Ogi wird aus der zierlichen, bejahrten, aber doch patenten Frau nicht schlau. Ein wenig unheimlich ist sie Ogi auch, was er sich dadurch erklärt, dass sie aufgrund ihrer japanischen Herkunft fremdartig auf ihn wirkt. Er erinnert sich an ein seltsames Aufeinandertreffen, bei dem er den Eltern seiner (damals künftigen) Ehefrau vorgestellt wurde und eine Urne mit der Asche der verstorbenen Mutter besagter Schwiegermutter im Hause vorfand.
Die Schwiegermutter scheint sich zunächst liebevoll um ihn zu kümmern, doch Ogi ahnt, dass die alte Frau weiß, was auch er weiß: Um die Beziehung zu seiner Ehefrau stand es nämlich gar nicht so gut, wie dies zunächst angedeutet wurde. Seine Affäre mit der Arbeitskollegin J stürzte seine Ehe in eine tiefe Krise – eine Krise, die die Schwiegermutter selbst bereits mit ihrem Mann durchlebte. Weitere Wolken ziehen auf am Horizont, als die Schwiegermutter dann auch noch das Hobby ihrer Tochter aufnimmt und in Ogis Garten diverse Arbeiten vornimmt, deren Sinn und Zweck er nur erraten kann. Besonders zu schaffen macht ihm ein großes Loch, an dem seine Schwiegermutter mit besonderem Eifer fuhrwerkt…
Ein Roald Dahl für Romantiker?
Unter der Prämisse, dass man es als Leser bis hierhin geschafft hat, kann sich die Lektüre von Der Riss noch zu einer Augenweide entfalten und erinnert in seinen stärksten Momenten an die Kurzgeschichten Roald Dahls. Seine kurzweiligen Erzählbände wie Küsschen, Küsschen (Orig.: Kiss Kiss, 1960) warten mit ähnlich unerwarteten Handlungsverläufen auf. Man erinnere sich nur der Geschichte des Ehemanns, dessen Gehirn und Auge nach seinem Tod am Leben erhalten werden. Seine Ehefrau, von ihm oftmals tyrannisiert, widmet sich ihrerseits mit einer mit Ogis Schwiegermutter vergleichbaren Hingabe Tätigkeiten, die ihr geliebter Ehemann ihr stets untersagte und gegen die er sich nun nicht mehr wehren kann.
Doch ein Roman von 224 Seiten ist keine Kurzgeschichte und ausblenden kann man die beinahe noch verstörenderen Episoden zu Beginn des Romans nicht, zumal gegen Ende erneut die emotionale Schiene gefahren wird. Wer hat hier das Potenzial des Romans verkannt: die Autorin Hye-Young Pyun oder ihre Übersetzerin Ki-Hyang Lee? Funktioniert der Dahl’sche Erzählmodus überhaupt im Romanformat? Zwiegesichtig wie seine Figuren ist wohl leider auch der Roman selbst. Doch trotz seiner Defizite bietet Der Riss ein schauerlich-schönes Erzählvergnügen, bei dem die gute, alte böse Schwiegermutter zur Ehrenrettung bemüht wird.
Hye-Young Pyun: Der Riss. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
btb Verlag, 224 Seiten
Preis: 18,00 Euro
ISBN: 978-3-442-75771-8