
Paul Slack: Die Pest; Reclam
Die Pest hat sich ins Gedächtnis der Menschheitsgeschichte eingebrannt als die verheerendste Krankheit überhaupt. Mit Die Pest bietet Paul Slack eine Übersicht über Fakten und Fiktion, die diese Krankheit umranken. Trotz des offensichtlichen Detailreichtums der Untersuchung treten einige Ungereimtheiten auf, die in unterschiedlichen Faktoren wurzeln.
von THOMAS STÖCK
Dieser Beitrag ist Auftakt der Reihe Die Pest.
Wir schreiben das Jahr 2020, es sind genau 300 Jahre vergangen seit dem letzten großen Pestausbruch auf europäischem Boden in Marseille. Doch dies ist nicht Anlass dafür, dass Albert Camus’ Die Pest (Orig.: La Peste) gerade „eine Renaissance“ feiert, wie es von Seiten des SWR treffend beschrieben wird: Corona hat die Welt fest in der Hand. In Deutschland sieht es momentan so aus, als würde die Krankheit langsam abklingen, als hätten wir das Ärgste überstanden. Mit Blick auf die wohl folgenreichste Krankheitsserie auf europäischem Boden wird jedoch offenbar, dass es sich auch lediglich um die Ruhe vor dem Sturm, das Warten auf eine zweite Welle handeln könnte. Aus der Geschichte der Pestausbrüche können wir für unser eigenes Handeln dieser Tage sowie für unseren Umgang mit behördlichen Maßnahmen und deren Kritikern noch einiges lernen. Auch wenn es wie eine Plattitüde klingt: Geschichte wiederholt sich, zumindest anteilig.
Anno Pestis
Wir befinden uns also erneut anno Pestis. Der emeritierte Oxford-Professor Paul Slack veröffentlichte seine Einführung in die Pesthistorie im Jahre 2012. Die Pest untersucht in sieben Kapiteln, welche Folgen das Bakterium Yersinia pestis zeitigte. Zu Beginn blickt Slack dabei auf den Namen der Krankheit, der – bereits in der Antike gebräuchlich – zunächst mit keinem eindeutigen Krankheitsbild in Verbindung zu bringen ist. Er bezeichnete lediglich allgemein eine Plage. So kann beispielsweise Thukydides’ Erzählung der athenischen Pest nicht mit dem Bakterium in Verbindung gesetzt werden. Auf Thukydides’ Beschreibung stützen sich noch Jahrhunderte später viele Verfasser bei ihren Berichten über ausbrechende Epidemien, sodass viele der erzählten Schrecken eine auffällige Ähnlichkeit zueinander aufweisen. Nach einer kurzen Einführung, sozusagen einem medizinischen Einmaleins der Pest, versucht sich Slack daran, sein dreistufiges Modell der Pest-Pandemien zu fundieren. Dabei gesteht er ein, dass das Jahr 540 n. Chr. „einen recht künstlich gesetzten Ausgangspunkt“ seiner Untersuchung darstellt. Immerhin sei dieser Einschnitt konsensfähig unter Historikern, denn ab diesem Zeitpunkt lassen sich die Beschreibungen der Krankheit eindeutig mit dem heute bekannten Krankheitsbild in Bezug setzen. Die erste Pandemie wird zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert verortet, eine zweite setzt um den Zeitraum der „Großen Pest“ von 1347–1352 ein und endet mit dem Pestausbruch von Marseille 1720, eine dritte Pandemie betraf ab 1894 schwerpunktmäßig Indien und China.
In weiteren Etappen beleuchtet der Autor die Pest als gesamtgesellschaftliche Entwicklung, aber auch als private Katastrophe. Besonders eindrucksvoll schildert Slack die fortschreitende Entwicklung von Maßnahmen gegen die Pest, bei deren Betrachtung er stichhaltig begründet, warum Maßnahmen wie Quarantäne und Isolation sich in der europäischen Zivilgesellschaft herausbildeten – und warum sie manches Mal von anderen Gesellschaften gerade im 19. und 20. Jahrhundert ablehnend empfangen wurden, wie das Beispiel Indiens zeigt. Auch den Bildern, also den Vorstellungen und Repräsentationen der Krankheit, wird ein eigenes Kapitel zugestanden, in der eine Polyphonie von Stimmen aus mehr als einem Jahrtausend einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Auch Illustrationen sind über das gesamte Buch verteilt, die die Auseinandersetzung mit der Pest veranschaulichen. Die unerklärliche Leichtigkeit, mit der der Tod von ganzen Städten Besitz ergriff, wird so nochmals farbenprächtig in Erinnerung gerufen. Das Buch beschließen einige Vorschläge, welche Lehren man aus der Pest ziehen kann.
Bedeutungsunklarheiten – Wer framet hier wen?
Schon bei der zeitlichen Rahmung fällt indes negativ auf, dass im Text selbst keine hinreichende Beweisführung geliefert wird, die die behauptete Eindeutigkeit der Quellenlage belegt. Hier hätte sich beispielsweise eine Gegenüberstellung zweier Quellen angeboten. Der englische Untertitel A Very Short Introduction ist also leider wörtlich zu verstehen – im deutschen Titel ist diese Inhaltsbegrenzung nicht angelegt. In der Folge orientiert sich Slack am Begriff des Framings und bemüht sich um Aufschluss darüber, wie die historischen Kontexte aussahen, die über das Verständnis und die Bewertung der Pest durch Zeitgenossen, aber auch durch Historiker Aufschluss geben. Was genau ist Framing? Auf zweieinhalb Seiten wird ausgeführt, dass es Slack um „die nicht-biologischen Elemente“ geht, Krankheiten hier ergo als „‚soziale Konstrukte‘“ betrachtet werden, die sich in einem begrenzten Rahmen (daher der Begriff frame) bewegen. Slack beschäftigt sich mit verschiedenen Kontexten, um so das Bild der Krankheit zu beleuchten. In den folgenden Kapiteln taucht der Begriff Framing nicht mehr auf. Als zugrunde liegendes Konzept ist es sicherlich gut zu wissen, in welchem Rahmen der Autor die Pest analysiert. Die Lektüre dieses Kapitels hat durch seine Umständlichkeit jedoch mehr Fragen aufgeworfen, als durch die Erklärungen beantwortet wurden.
Davon ab argumentiert Slack leicht zugänglich und schreitet selbstsicher durch die Jahrhunderte. Die vielen benutzten Quellen erleichtern das Nachvollziehen des einsetzenden Wandels, der von Gottesfurcht, Astrologie und Aberglauben der Massen hin zu flächendeckender Quarantäne, Isolation und der Einführung des cordon sanitaire von Verwaltungsseite führte. Dabei kommt Slack jedoch auf so vielfältige Themen zu sprechen, dass diese nicht immer genaue Betrachtung finden und getätigte Aussagen so schnell relativiert werden, dass man als Leser einen faustischen Lernfortschritt durchlebt: „Da steh’ ich nun, ich armer Tor, / Und bin so klug als wie zuvor!“ So wird der Einfluss auf die englische Architektur dergestalt beschrieben, dass angenommen werden muss, dass sich der perpendikurale Baustil gegenüber dem dekorierten Stil im Zuge des Pestausbruchs im 14. Jahrhundert durchsetzen konnte, weil er schlichtweg günstiger war. Doch schon vor dem Ausbrechen der Pest ab 1347 setzte diese Entwicklung ein. Ein letztes kleines Ärgernis besteht in so mancher Begriffswahl der Übersetzerin Ursula Blank-Sangmeister, die etwa den Griechen Prokopios von Caesarea als „Historiker“ bezeichnet. Dieser Begriff ist grundsätzlich nicht falsch, im Kontext erweckt die Bezeichnung jedoch zunächst den Eindruck, es handele sich um einen Wissenschaftler des 20. oder 21. Jahrhunderts. Stattdessen wäre wohl Historien- oder Geschichtsschreiber eine passendere Berufsbezeichnung für einen Zeitgenossen Justinians.
Die richtigen Lehren aus der Pest
Doch genug der Kritik, denn es überwiegt das Staunen über die Parallelen zur heutigen Zeit, die sich bei der Lektüre auftun. Slack beschreibt beispielsweise irrationale Reaktionen auf die Pestausbrüche, die er selbst als „rauschbedingten schwarzen Humor“ tituliert:
So „tanzte und fiedelte“ etwa ein Mann in York im Jahr 1632 zwischen den infizierten Häusern, und ein anderer sagte zu einem Schutzmann, der Nachforschungen anstellte, dass in seinem Haus alle „wohlauf seien, nur seine Katze sei krank“. Diese paar Stimmen führen uns über bloße Zahlen hinaus und lassen uns jene „Leiden einzelner Personen“ erahnen, die Thukydides für kaum erträglich hielt.
Die Gleichgültigkeit, mit der so mancher der Krankheit begegnete, kann nur Kopfschütteln und bittere Ironie bei Slack auslösen. Und doch sehen auch wir uns heute mit ähnlichen Handlungsmustern konfrontiert, die mal die Einschränkungen durch die Krankheit ignorieren und mal die Existenz der Krankheit an sich infrage stellen. Übrigens: Im letzten Kapitel wird ein Artikel mit dem Titel „Strategies for Mitigating an Influenza Pandemic“ aus der Zeitschrift Nature von 2006 zitiert, bei der Grenzschließungen sowie Reisebeschränkungen als bloßer Verzögerungseffekt einer Pandemieausbreitung beschrieben werden, auch Schulschließungen könnten lediglich eine 40-prozentige Reduktion der Infektionsrate bedeuten. Als am effektivsten (und somit am zielführendsten) wird hingegen die Isolation von Kranken beurteilt – sofern sie denn durchsetzbar sei.
Im kommenden Teil der Reihe Die Pest besprechen wir Daniel Defoes Die Pest in London in der Neuauflage des Jung und Jung Verlags.
Paul Slack: Die Pest. Aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister unter Mitarbeit von Anna Raupach
Reclam Verlag, 189 Seiten
Preis: 6,80 Euro
ISBN: 978-3-15-019218-4
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