
Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben; Insel Taschenbuch
Am 2. Juni 2020 würde Marcel Reich-Ranicki seinen 100. Geburtstag feiern. In Erinnerung geblieben ist der bedeutendste deutsche Buchkritiker der Nachkriegszeit als „Literaturpapst“, für seine Verrisse war er berühmt-berüchtigt. Thomas Anz setzt mit seiner Biografie Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben dem 2013 Verstorbenen ein lesenswertes Denkmal für sein Lebenswerk. Fakten und Anekdoten über Reich-Ranickis Leben, literarische Querverweise auf seine eigenen Werke und die Auseinandersetzung mit der Kritik am Kritiker zeigen ihn in seinen zahlreichen Facetten.
von THOMAS STÖCK
Es ist die dunkelste Episode aus einem bewegten Leben, auf die Marcel Reich-Ranicki zurückblickt, als er, der 91-Jährige, als Redner vor den Deutschen Bundestag tritt. Am 27. Januar 2012 gedenken er und alle Anwesenden den Opfern des Nationalsozialismus. Noch bevor er als Literaturkritiker in Erscheinung trat, wurden er, seine Familie sowie seine spätere Frau Teofila ins Warschauer Ghetto gepfercht. Seine Eltern wurden ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt und getötet, Marcel Reich – wie er damals noch hieß – und Teofila, die im Ghetto heirateten, gelang die Flucht. Vor dem Deutschen Bundestag berichtet Reich-Ranicki als Zeitzeuge über den Tag, an welchem dem Judenrat die Deportation der Juden von Warschau nach Treblinka mitgeteilt wurde. In dieser Rede verweist der Literaturkritiker auf die Bedeutung des in diesem Fall gesprochenen Wortes – welches er gleich einem Monument dem Gedenken der Toten stiftet. Worte, gesprochene wie geschriebene, waren das Handwerkszeug, mit denen Reich-Ranicki Autoren lobte oder ihre Werke verriss, mit denen er die Zuhörer von der Literatur schwärmend in seinen Bann zog oder mit denen er stritt, wenn sich wieder einmal ein Autor durch eine Kritik in seiner Ehre verletzt sah. In Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben entwirft der Literaturwissenschaftler und überdies Reich-Ranickis Nachlassverwalter Thomas Anz ein lebendiges Porträt des Verstorbenen, das den Literaturkritiker als wirkmächtige Persönlichkeit beschreibt, aber auch dessen Verletzlichkeit und Einsamkeit in so mancher Lebenslage aufzeigt.
Ghetto, Geheimdienst, Grenzüberquerung
Teils chronologisch, teils nach inhaltlichen Schwerpunkten beleuchtet Thomas Anz Reich-Ranickis Leben in treffsicheren, anschaulichen Worten. Über die Kindheit in Polen mit dem Bankrott des Vaters verschlägt es den Jugendlichen nach Berlin, wo er sein Abitur macht und eigentlich Germanistik studieren will, stattdessen jedoch gezwungen ist, ins Warschauer Ghetto überzusiedeln. „Deutschland – das sind in meinen Augen Adolf Hitler und Thomas Mann“, beschrieb Reich-Ranicki die beiden für ihn bedeutendsten Pole der deutschen Geschichte, die sich auch auf die Literatur auswirkten: Unter der Behauptung, „das schöpferische Genie vor den Zersetzungen der Kritik zu schützen“, verboten die Nationalsozialisten eine Kunstkritik – zu Gunsten der ‚Kunstbetrachtung‘. Dies „war für Reich-Ranicki das abschreckende Beispiel in einer langen und bis heute andauernden Tradition der Kritikfeindlichkeit. Gegen sie schrieb er unermüdlich an.“
Nach seiner Flucht tritt er der Kommunistischen Partei Polens bei, wird Geheimdienstmitarbeiter. Doch Marcel Reich, nun unter seinem Decknamen Marceli Ranicki unterwegs, wird aus der Partei ausgeschlossen und zeitweise inhaftiert. In dieser kurzen Periode liest er: Anna Seghers’ Das siebte Kreuz ist das Buch, das ihn durch die Haft begleitet und das ihn schlussendlich davon überzeugt, sich beruflich mit Literatur zu beschäftigen. Noch in Polen beginnt Ranicki das Schreiben und wird zum Mittler der deutschen Literatur in Polen. Der ihm auferlegte Parteiausschluss drängt ihn auch beruflich ins Abseits, er wird zeitweise mit einem Publikationsverbot belegt. Dies führt ihn und seine Frau Teofila zu dem Schluss, Polen endgültig den Rücken zu kehren und die Grenzüberquerung in die Bundesrepublik zu wagen.
Dieser Schritt bedeutet für den jungen Mann einen von vielen Neuanfängen, doch Marcel Reich-Ranicki, wie er sich nun nennt, ist nicht länger auf sich allein gestellt. Heinrich Böll und Siegfried Lenz unterstützen ihn, er wird in die „Gruppe 47“ aufgenommen. Es folgen eine Anstellung bei der Zeit, die Reich-Ranicki aus Unzufriedenheit über seine dortige Isolation wieder verlässt, und eine Episode in seinem Leben, die sich zwischenzeitlich wie der Höhepunkt seines literaturkritischen Schaffens ausgestaltet: Er wird Leiter der Literaturredaktion bei der Frankfurter Allgemeinen. Von 1973 bis 1988 hat Reich-Ranicki hier freie Hand, unter anderem ruft er die „Frankfurter Anthologie“ ins Leben. Im Alter von immerhin 68 Jahren gelingt Reich-Ranicki jedoch der nächste Coup: Das Literarische Quartett. Noch vor dem Auseinanderbrechen dieser Fernsehsendung, mit der es Reich-Ranicki und seinen Kollegen gelang, einem breiten Publikum zeitgenössische literarische Diskurse schmackhaft zu machen, folgte der Höhepunkt seines schriftstellerischen Schaffens, wie ihn zumindest Anz nennt: die Autobiografie Mein Leben.
Der einsame Anwalt der Literatur
Mit dieser Autobiografie erzielt Reich-Ranicki einen vollen Erfolg. Das Buch wird in hunderttausendfacher Auflage verkauft, übersetzt und löst selbst bei sonst kritischen Stimmen Lob und Wohlwollen aus. In ihr beleuchtet Reich-Ranicki die vielen Streite mit Schriftstellern, er spricht das Zerbrechen zweier Freundschaften an, die ihn hart trafen – und er wendet sich ausführlich seiner Zeit im Warschauer Ghetto zu. Wie Reich-Ranicki auf sein eigenes Leben blickt, das zeigt Thomas Anz unter vielfältigen Verweisen auf eigene Schriften und auf wichtige Bezugstexte. Anz eröffnet dem Leser also einerseits den Blick auf Reich-Ranicki, den Literaturkritiker oder „-papst“, wie er mal ernsthaft, mal ironisch tituliert wird. Andererseits aber weist Anz auf eine andere Seite jenes Mannes hin, der stets polarisierte. Anz präsentiert dem Leser Marcel, den Menschen.
Marcel Reich-Ranicki fand stets die richtigen Worte, um seine eigene Meinung pointiert zu artikulieren und so Einfluss auf die deutsche Literaturlandschaft zu nehmen. Mit diesem Einfluss lobte und verriss Reich-Ranicki, ohne dabei Rücksicht auf ‚große‘ Persönlichkeiten zu nehmen. Auch vor Fehlurteilen scheute er nicht zurück, denn: „Der gute Kritiker, so betonte er wiederholt, zeichnet sich durch den Mut zur Entscheidung aus.“ Anz macht diese Entscheidungen an zahlreicher Stelle nachvollziehbar. Ausgehend von Goethes Gedicht Der Rezensent, in dem es heißt: „Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent“, wird so Reich-Ranickis Selbstverständnis als Kritiker augenfällig. Für die besten Texte und gegen (aus seiner Perspektive) Fehler schrieb Reich-Ranicki zeitlebens an – und nicht, wie von Goethe verlangt, mit Wohlwollen dem Autor gegenüber. Dabei vermittelte Reich-Ranicki stets zwischen ‚schwieriger‘ Literatur und dem breiten Publikum. Goethes Gedicht bezeichnete Reich-Ranicki kurzerhand als „das dümmste, das seiner Feder entstammt“. Seine Rolle als Kritiker gepaart mit seiner stärksten Waffe, den stets scharf geführten Worten, machten ihn berühmt-berüchtigt. Als „Anwalt der Literatur“ fühlte er sich jedoch so manches Mal einsam, wie Thomas Anz berührend darlegt. So schreibt Anz über Mein Leben: „Angesichts der literarischen Leistungen der Schriftsteller, über deren Schwächen er erzählte, plädierte Reich-Ranicki wiederholt für Nachsicht. Auch das war auf ihn selbst gemünzt[.]“