Von Rehen und Mystikerinnen – Oder: The Animal Village

Olga Tokarczuk: Der Gesang der Fledermäuse; Schöffling & Co.

Nachträglich für den ausgefallenen Nobelpreis 2018 wurde der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk dieser Preis im vergangenen Jahr verliehen. Ihr Roman Der Gesang der Fledermäuse bringt neuen Wind in die Literaturszene. Auch wenn er zu Teilen esoterisch und befremdlich wirkt, zwingt er den Leser immer wieder, sich einer drängenden Frage zu stellen: Woher nimmst du dir das Recht, über die Protagonistin zu urteilen? Ein Roman, der die Andersartigkeit in den Mittelpunkt stellt und ein Umdenken fordert – dieses Mal in unserer Throwback-Thursday-Reihe.

von ALINA WOLSKI

Alles bekommt einen eigenen Namen: Die Verkäuferin im Second-Hand-Laden in der nächsten Stadt – Buena Noticia; der verstorbene Nachbar – Big Foot; ein Polizist – Schwarzer Mantel… Nur einen passenden Ersatz für ihren eigenen Namen – Joanna Duszejko – kann die Protagonistin nicht finden. Angefangen bei den Namen über die eigenwillige Berechnung von Horoskopen bis zu der Übersetzung von William Blakes Lyrik – zusammen mit ihrem ehemaligen Schüler – baut sich Joanna eine kleine, eigene Welt in einem im Winter so gut wie menschenverlassenen Dorf im südlichen Polen an der Grenze zu Tschechien auf. Es ist ein hartes Leben. Die Winter sind kalt, die Straßen eingeschneit, die Gesundheit ist auch nicht mehr die Beste und zwischenmenschlicher Kontakt rar. Dazu kommen plötzlich gehäuft auftretende Morde an Einheimischen aus der Region. Was auffällt: Immerzu haben sich diese Personen an Tieren vergangen, sie gejagt, in Massentierhaltung gezüchtet oder sich negativ zum Tierschutz geäußert. Für Joanna ist die Sache vollkommen klar: Die Tiere beginnen sich zu rächen. Doch niemand mag ihr Glauben schenken.

Tiere vor Gericht

Auf der Diskursebene ruft Tokarczuk eine altbekannte Diskussion hervor: Haben Tiere Rechte? Das Animal-Rights-Movement ist besonders im 20. Jahrhundert durch die Rechtsphilosophie diskutiert worden. Doch noch heute ist das Thema weiterhin aktuell. In ihrem Roman beschäftigt sich die Protagonistin mit der Frage, weshalb Menschen nicht die Rechte von Tieren in der sogenannten Prozessstandschaft, also in Vertretung für sie einklagen können; ob dies nicht sogar eine moralische Pflicht ist; ob dies das allumfassende Naturrecht gebietet. So bewegt sich Tokarczuk auf zwei sehr verschiedenen Ebenen: Zum einen tauchen diese äußerst tiefgründigen, grundsätzlichen rechtsphilosophischen Diskurse auf, zum anderen beschreibt sie Alltägliches, zeichnet die Atmosphäre und Landschaft nach oder schildert die Position der Sterne. Doch auch in diesen oberflächlich wirkenden Teilen versteckt sich die an die Leserschaft gerichtete fundamentale Frage: Woher nimmst du dir das Recht, über die Protagonistin zu urteilen?

Starke, verschrobene Frau?

Die Protagonistin beobachtet in ihrem Umfeld, dass sie beständig als verschrobene, ältere Frau wahrgenommen und nicht ernstgenommen wird – selbst von ihren engeren Bekannten. Sie mutet ungewöhnlich an: Konstruierte sie in ihrer Vergangenheit Brücken im arabischen Raum, unterrichtet sie zum Zeitpunkt des Romangeschehens Grundschulkinder im Fach Englisch. Auf dieser einen Seite wirkt Joanna unglaublich rational. Auf der anderen Seite mag man zunächst stutzen: Diese intelligente, durchdacht agierende, von Logik strotzende Frau glaubt an Horoskope, berechnet diese, meint, Tiere würden sich gegen die Menschen verschwören und fordert von der Polizei, das Recht der tierischen Waldbewohner anzuerkennen. Der Gesang der Fledermäuse stellt gerade diese Charakterzüge in den Mittelpunkt. Olga Tokarczuk gelingt es, diesen scheinbaren Widerspruch in der Person der Protagonistin aufzulösen und so einen tiefgründigen, umfangreichen Charakter zu schaffen, der so oft in der Literatur nicht aufzufinden ist: den einer starken älteren Frau, die zu sich selbst und ihren Überzeugungen steht. Durch diese andere Perspektive bringt Tokarczuk frischen Wind in ihren Provinzroman, auch wenn aller Anfang besonders bei diesem Roman schwer ist. Dass man Gewöhnungszeit oder -seiten braucht, um diese andersartige, fremde Welt zu betreten, lässt sich nicht leugnen. Doch besonders der klare Schreibstil ermöglicht es, in diese Welt an der polnisch-tschechischen Grenze mitten im Nirgendwo einzutauchen. Die Autorin führt dieses Spiel so weit, dass man als Leser schnell Grenzen seiner eigenen Überzeugungen übertritt, von denen man es nie für möglich gehalten hat, diese abzulegen.

Neuer Feminismus

Ein wenig erinnert Der Gesang der Fledermäuse bezogen auf seine Konzeption an Vladimir Nabokovs Lolita. Genauso wie in Nabokovs stark umstrittenem Roman handelt es sich bei diesem 2018 erschienenen Werk um eine Art Zeugenaussage in einem Rechtsfall. Genauso wie bei Nabokov beginnt man nach der Lektüre von Der Gesang der Fledermäuse ein Verbrechen anders zu beurteilen als bei einer ausschließlichen Betrachtung der Fakten. In diesem überzeugenden Charakter zeigt sich die Kraft dieses Romans: Er ist sprachlich, inhaltlich sowie in seiner Wirkung stark und stellt dabei eine selbstbewusste, ältere Frau in den Mittelpunkt. Neben einer Hommage an die Andersartigkeit, die Moral und das kritische Denken lässt sich hier ein klares Bekenntnis zu einem neuen Feminismus erkennen. Aus diesen Gründen handelt es sich bei Der Gesang der Fledermäuse um einen Roman, der den Horizont erweitert und zugleich eine angenehme und anregende Lektüre verspricht. Olga Tokarczuk gelingt es so, sich auf dem europäischen Buchmarkt mit diesem provinziell-innovativen Kriminalroman abzuheben und einen neuen Ton des Feminismus anzuschlagen.

 

Olga Tokarczuk: Prowadź swój pług przez kości umarłych

Literackie, 320 Seiten

Preis: 8,41 Euro / 24,39 Złoty

ISBN: 978-8308060582

 

Olga Tokarczuk: Der Gesang der Fledermäuse

Schoeffling, 352 Seiten

Preis: 13,00 Euro

ISBN: 978-3895614668

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